10 Jahre nach Tschernobyl
: Eine Christo-Lösung für Tschernobyl

■ Westeuropäische Baufirmen haben ein Konzept für eine neue Hülle um den Unglücksreaktor vorgelegt. Die alte könnte jederzeit einstürzen, aber niemand will die neue bezahlen Au

Die Erklärung von Professor Alexander Borowoi vom Moskauer Kurtschatow- Institut bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Die Betonhülle um Reaktor IV in Block B des AKW Tschernobyl weise „1.000 Risse“ auf, sagte der hochkarätige sowjetische Wissenschaftler bei einem internationalen Kolloquium im April 1991 in Paris. „In sieben Jahren besteht Gefahr“, warnte er seine Kollegen, die aus aller Welt zusammengekommen waren, um die übliche Bestandsaufnahme am Jahrestag des Super- GAU zu machen. „Uktritiye“, wie der durchgebrannte Reaktor nebst radioaktiver Ladung und rissiger Hülle im Russischen genannt wird, müsse dringend verstärkt werden.

Für die westliche Atomindustrie eröffnete Borowois Eingeständnis eine neue Perspektive. Als im Frühjahr 1994 die Europäische Kommission einen Wettbewerb über eine Machbarkeitsstudie für eine neue Betonhülle für den Reaktor lancierte, bewarben sich mehr als ein Dutzend Unternehmen. Die Ausschreibung verhieß alles, was die von Auftragsrückgang gebeutelte Branche benötigte: ein gigantisches Bauvolumen, einen zeitlich unbefristeten Einsatz, die Aussicht auf die Eroberung eines neues Marktes und eine garantierte internationale Aufmerksamkeit.

Die Franzosen machten das Rennen. Das von ihnen geleitete Firmenkonsortium „Alliance“ bekam im Juli 1994 den Zuschlag für die 3 Millionen ECU (etwa 6 Millionen Mark) teure Machbarkeitsstudie aus dem Brüsseler „Tacis- Programm“. Sechs Giganten der westeuropäischen Atomindustrie – sekundiert von mehreren russischen und ukrainischen Partnern – hatten sich in „Alliance“ zusammengeschlossen:

– Der größte deutsche Baukonzern, Walter, dessen Tochter Dywidag seit 1972 im Atomkraftwerksbau tätig ist;

– die britische Aea Technology, die Ingenieursabteilung der staatlichen britischen Atomenergiebehörde;

– und die Franzosen: die „SGN“ (eine Tochter der mächtigen staatlichen Cogéma, „Compagnie Générale des Matières Nucléaires“);

– Buygues (das weltweit größte Bauunternehmen)

– und Campenon Bernard (das über 50 Prozent des französischen AKW-Parks gebaut hat und für das chinesische AKW Daya-Bay verantwortlich zeichnet).

In einem knappen Jahr Feldstudien trugen die Experten von „Alliance“ mehr Material über „Uktritiye“ zusammen, als je über einen einzelnen Reaktor existiert hat. Das Resümee ihrer im vergangenen Herbst fertiggestellten Studie ist eindeutig und übertrifft die Prognose von Professor Borowoi bei weitem: „Der Sarkophag von 1986 (...) kann jederzeit kollabieren.“

Die „unter extremen Bedingungen entstandene“ ursprünglich für dreißig Jahre konzipierte Betonhülle sei instabil und nicht erdbebentauglich. Sie könne nicht langfristig gesichert werden und ihre Bauweise gestatte keine Entsorgung der hochradioaktiven Abfälle in ihrem Inneren, konstatieren die Experten. Dringend empfehlen sie den Bau einer neuen Betonhülle, in deren Schutz Reaktor IV zu einem späteren Zeitpunkt abgerissen werden könne. Als Voraussetzung dafür verlangen sie einen „starken politischen Willen“ und verläßliche Finanzierungsstrukturen, die die Projekt- Management-Gruppe bei ihrer Arbeit stützen. Die Experten wollen „Uktritiye“ unter einer langgezogenen bogenförmigen Betonhülle verschwinden lassen. Die beiden – östlich und westlich gelegenen – Giebelwände für die Betonhüllen sollen als Fertigteile angeliefert, die halbrunden Betonsegmente dazwischen an Ort und Stelle gebaut werden.

Ungefähr zehn Jahre nach dem Bau der Betonhülle wollen sie mit der Entsorgung von „Uktritiye“ beginnen, die dannach ihrerseits noch einmal fünfundzwanzig Jahre in Anspruch nehmen wird.

Die Frage, ob nur der durchgebrannte Reaktor IV, oder auch der im selben Block befindliche Reaktor III, der weiterhin in Betrieb ist, überbaut wird, lassen sie offen. Das hänge von den finanziellen Mitteln ab. In jedem Fall aber wollen sie den rostigen, rot- weiß gestrichenen Schornstein, der in den Tagen nach der Katastrophe vom 26. April 1986 über die Fernsehbildschirme in aller Welt geflimmert ist, abreißen.

„Technisch ist die Sicherung von Uktritiye machbar“, heißt es in französischen Fachkreisen, „das ist lediglich eine Frage des Geldes“. Wieviel die Operation nach den Plänen von „Alliance“ indes kosten wird, ist noch völlig unklar. In der Atomindustrie ist die Rede von „der Größenordnung eines AKW-Neubaus“. Unter anderem hängen die Kosten davon ab, wer Auftraggeber und wer Auftragnehmer wird und ob auf der Baustelle örtliche oder ausländische Normen gelten werden. „Wenn die Ukraine die zulässigen Strahlenwerte, die Schutzbestimmungen für die Arbeiter, die Entsorgung des Atommülls, die Löhne und die Kontrollen bestimmt, wird es billiger“, wissen Eingeweihte.

Für die ukrainische Wirtschaft allein wären die Reparaturarbeiten in jedem Fall unbezahlbar. „Alliance“ schlägt deshalb die Bildung eines „Internationalen Tschernobyl Fonds“ vor, der für die erste Projektphase weltweit öffentliche und private Gelder sammeln soll. In der zweiten Phase – der Entsorgung von „Uktritiye“ – könnte nach der Analyse von „Alliance“ das weltweite Interesse an Tschernobyl geschwunden und eine andere Finanzierung nötig sein – beispielsweise mit Hilfe von Energiesteuern oder Lottoerlösen.

Seit dem vergangenen Herbst befindet sich die hochkarätige Expertengruppe von „Alliance“ im Schlummerzustand. Ihre Empfehlungen sind Gegenstand nicht enden wollender politischer Beratungen – nicht nur bei der Europäischen Kommission, sondern auch in der Gruppe der sieben großen Industriestaaten, die sich seit einigen Jahren systematisch mit der Reaktorsicherheit in Osteuropa befaßt.

Die bisherigen Begegnungen zwischen G7 und Ukraine allerdings sind nicht gerade vielversprechend verlaufen. Als Voraussetzung für eine Sanierung verlangt der Westen, daß Kiew die weiterhin funktionierenden Reaktoren in Tschernobyl vom Netz nimmt. Die ukrainische Regierung war zu diesem Schritt jedoch nur situativ bereit und wechselt unberechenbar zwischen den Positionen: „Wir schalten ab“ und „wir schalten nicht ab“. Zuletzt unterzeichnete sie im vergangenen Dezember ein „Memorandum“ mit den G7-Staaten, wonach zwar abgeschaltet wird, aber ohne Zeitplan und ohne Rechtsverbindlichkeit.

Das AKW-Tschernobyl produziert auch heute noch 4 bis 7 Prozent der ukrainischen Energie. Sein Generaldirektor Sergej Paraschin würde es am liebsten bis ins nächste Jahrtausend retten. „Man schließt kein AKW, das 200 Millionen Dollar jährlich einbringt, Millionen Menschen mit Strom beliefert und 25.000 Menschen Arbeit gibt“, sagte er im vergangenen November der finnischen Zeitung Vasabladet. Das hochverschuldete 52-Millionen-Einwohner-Land wäre ohne seine fünf Atomkraftwerke überhaupt nicht in der Lage, über den Winter zu kommen. Rußland und Turkmenistan, von denen die Ukraine seit den Sowjetzeiten mit Gas und Erdöl versorgt wird, bestehen längst auf Weltmarktpreisen. Mehrfach bereits drehten die Lieferanten der säumigen Zahlerin den Gashahn zu. Auch in den letzten Wochen heizte die Ukraine wieder auf Sparflamme.

Auch in finanzieller Hinsicht klaffen die ost-westlichen Vorstellungen weit auseinander. Während die Ukraine Ende letzten Jahres sechs Milliarden Dollar (neun Milliarden DM) für den Ausstieg aus Tschernobyl verlangte, waren die G7-Staaten in ihrem bisher großzügigsten Angebot vom vergangenen November nur bereit, 3 Milliarden DM zu zahlen – 2,5 Milliarden als Darlehen und 630 Millionen DM als Hilfe, damit die Ukraine in den Bau neuer AKWs investieren kann.

„Die Ukraine will das Beste aus Tschernobyl herausholen“, ist die Ansicht von Experten, die seit Jahren das nukleare Tauziehen verfolgen. Das Unglücks-AKW ist nach ihrer Einschätzung das einzige Argument, mit dem der kleine westliche Nachbar von Rußland die internationale Gemeinschaft unter Druck setzen könnte. Andere osteuropäische Staaten verfolgen dieses Kräftemessen mit Interesse. „Wenn die Ukraine bekommt, was sie will, wird die nukleare Erpressung Schule machen“, befürchten informierte Kreise.

Beispiele für gefährliche Reaktoren gibt es in Osteuropa genug. Zuletzt konzentrierte sich die Aufmerksamkeit des Westens auf das AKW Kosloduj in Bulgarien, das der französische Umweltschützer Jacques Cousteau „gefährlicher als Tschernobyl“ nennt. Als die dortige Regierung die Anlage im vergangenen Oktober nach einem monatelangen Psychodrama trotz westlicher Bremsversuche wieder in Betrieb nahm, zog die französische Elektrizitätsgesellschaft EDF ihre Berater aus Protest ab.

Doch trotz der komplizierten nuklearen Zusammenarbeit mit den einstigen Ostblock-Staaten, wo die Sicherheitsstandards niedriger und die Kontrolle immer noch gering ist, bleiben die westlichen Atomexperten am Ball. „Das ist ein großer Markt“, erklärt der Lyoner Friedenforscher Bruno Barrillot die Hartnäckigkeit, „wer Finanzierungsmöglichkeiten findet, kann diesen Ländern in der Zukunft neue Reaktoren verkaufen.“

Wenige Tage vor dem zehnten Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wollen die G7-Staaten in Moskau einen neuerlichen Versuch starten, Tschernobyl zu stoppen. Sie stehen unter Erfolgsdruck. Die Experten von „Alliance“ haben das Gefahrenszenario erkannt. „Tschernobyl ohne Hilfe zu lassen, hätte zahlreiche soziale und wirtschaftliche Folgen“, schreiben sie in ihrer Machbarkeitsstudie an die Europäische Kommission. „Man riskiert einen neuen Unfall. Man hinterläßt den künftigen Generationen eine gefährliche und unkontrollierte Situation und man verurteilt die internationale Atomindustrie, weil sie nicht in der Lage ist, ihre eigenen Risiken und Konsequenzen für die Umwelt zu bewältigen.“