Infrastruktur des Horrors

■ Auf Kampnagel sind „200 Tage und 1 Jahrhundert“ zu sehen

Der erste Blick ist verwirrend. Es sieht so aus, als sollte die Ausstellung alle 50. Jahrestage, die jetzt anliegen, auf einmal erledigen – und die Linien, die von ihnen aus bis in die Gegenwart führen, gleich mit dazu.

Am vergangenen Sonnabend vor 50 Jahren, am 27. Januar 1945, befreite die Rote Armee das KZ Auschwitz. 200 Tage später warfen die Amerikaner eine Atombombe des Typs Little Boy über Hiroshima ab. Den Zeitraum zwischen diesen beiden Ereignissen faßt die Ausstellung 200 Tage und 1 Jahrhundert, die seit Sonnabend auf Kampnagel zu sehen ist, zu einem Block zusammen. Einzelne Daten greift sie heraus. Vom Datum der Unabhängigkeitserklärung Kambodschas an Vietnam (11. März 1945) verfolgt sie etwa das leidvolle Schicksal des Landes, vom Datum der Uno-Gründung (25. April 1945) die Geschichte der Weltorganisation.

Der verwirrte erste Zuschauerblick weicht einem interessierten zweiten. Nicht allein um beliebiges Gedenken an die Greuel der Vergangenheit ging es den Ausstellungsmachern (die Federführung hatte das Hamburger Institut für Sozialforschung), sondern um die Rekonstruktion einer Zeit, in der sich Gewalt und Brutalität austobten, zugleich aber auch Maßnahmen, sie zu bändigen, stattfanden (Uno-Gründung, Nürnberger Prozesse).

Eine Befürchtung zerstreut sich rasch. Die Einbettung der Nazi-Greuel in die Destruktivitäts-Geschichte des 20. Jahrhunderts relativiert sie keineswegs. Neben dem Gulag, den weltweiten Folterungen, auch neben dem Atombomben-Abwurf nehmen sich die Taten des „Dritten Reiches“ einzigartig aus, nur hier ist eine hochentwickelte Zivilisation als ganze barbarisch geworden.

Der dritte Blick heftet sich auf die Einzelheiten, von denen die Ausstellung zu viele bietet, um sie hier aufzählen zu können. In ihrem Zentrum steht ein simples Achteck aus Maschendraht, Tafeln bieten darauf die Daten der 200 Tage. Drumherum sind sieben Räume individuell gestaltet. Wie sorgfältig sich um eine Balance zwischen sachlicher Information und ihrer emotionalen Unterfütterung bemüht wurde, zeigt der prekäre Auschwitz-Raum. Eine Europakarte präsentiert die Infrastruktur des Horrors: die Strecken, auf denen Millionen von Menschen wie Vieh den Gaskammern zugeführt wurden. Durchsichtige Plastiktafeln zeigen in der Nähe unkommentiert die Auswirkungen. Dort stehen Namen der Opfer, unter Hunderten etwa diese: Wolkowitz, Fischel – 8; Wolkowitz, Rifka – 5; Wolkowitz, Sara – 31. Alles, was von einer Kleinfamilie blieb: wenige Buchstaben. Dirk Knipphals

K6, Di–Fr 16–21 Uhr, Sa + So 11–21 Uhr, bis 5.  März