: Bremen erstickt in seinen zu engen Grenzen
■ Der Bremer Unternehmer Hans Henry Lamotte antwortet auf die Thesen von Ex-Senator Thomas Franke
Sehr geehrter Herr Senator Frnnke,
mit grossem Interesse habe ich ihre Ausführungen in der taz unter dem Titel „Bloßes Abwarten reicht nicht“, Windhorst, 1. Februar, gelesen. Eine hervorragende Analyse und eine treffsichere Standort-Beschreibung. Sie gehen aber von falschen Prämissen aus, die Sie zu verhängnisvollen Zielvorstellungen führen.
Das Ringen um eine freie, zum Meer hin offene Stadt durchzieht die bremische Geschichte von Anbeginn an. Das hat diese Stadt und die sich ihr ständig zuwachsende Bevölkerung geprägt. Diese Feststellung hat mit Emotionen nichts zu tun, es handelt sich um ein Faktum.
Alle großen Aufbrüche – von der Nordmission bis zum Welthafen Bremen/Bremerhaven – haben hier ihre Kraftquelle bezogen und beziehen aus dieser Sonderstellung ihre über das rein Kalkulierbare hinausgehende Energie. Die Geschichte Bremens ist voller Beispiele dafür.
Von solchen Wertvorstellungen war der politische Wille geleitet, der zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Boden des Föderalismus geführt hat und der Bremen seine Eigenstaatlichkeit nicht nur zuerkannte, sondern auch zumutete und damit abverlangt.
Es sind durchaus nicht nur Trümmerhaufen, vor denen wir heute stehen. Bremen kann mit Leistungen aufwarten, die seine aus der Eigenstaatlichkeit geschöpfte Kraft beweisen. Und doch ist ein beängstigender Niedergang auf verschiedenen Gebieten, die von einem Bundesland abzudecken wären, festzustellen. Bremen steckt in einer dicken Krise.
Es kann nun aber nicht einfach hingenommen werden, daß Sie jetzt Defizite aufzählend beklagen, die Sie selber während Ihrer Amtszeit herbeigeführt haben, für die Sie also mitverantwortlich sind. Ihre Schulpolitik hat Bremen belastet (hier spricht auch der Vater von sechs Kindern), ihre Universitätspolitik hat Bremen geschadet und auch am von Ihnen beklagten Niedergang der Theater sind Sie nicht unbeteiligt. Das sei nicht festgestellt, um abzurechnen. Nur sollten Sie jetzt einsichtig sein und Ihre Erfahrungen aus solchen Fehlern einbringen in den Prozeß einer Stabilisierung unseres Gemeinwesens.
Damit nun ist für mich der Weg frei, Ihnen in vielen Teilen Ihrer Abhandlung zuzustimmen. Es ist richtig, was Sie zur aktuellen Lage Bremens feststellen. Und ich unterstreiche ihren Satz „Bloßes Abwarten reicht nicht“, und ich stimme Ihnen nachdrücklich zu, daß eine solche politische Haltung unverantwortlich ist und für die Zukunft wäre.
Meine daraus zu ziehende Konsequenz weist jedoch in die Gegenrichtung. Die Bundesstaatlichkeit Bremens ist wie einst so heute begründbar und sie ist ein Wert für sich! Gerade in Krisen- und Notzeiten gibt es da kein Kneifen, gerade jetzt hat Bremen für seine Eigenständigkeit einzustehen, – nicht für sich nur, sondern für das übergeordnete, föderale, sich gerade in Bremen seit Jahrhunderten glückhaft beweisende Prinzip. Nichts ist schwächlicher, als sich in kritischer Lage auf Meinungsumfragen zu berufen. Hier ist Politik gefordert, zielorientierte, bewußte, verantwortungsbereite Politik.
Ich habe nie verstanden, daß Bremen sich immer und auch heute noch vor einer Diskussion um seine Eigenstaatlichkeit wie das Kaninchen vor der Schlange fürchtet. Wir sollten sie endlich nachdrücklichst fordern! Bremen erstickt – für jeden sichtbar – in seinen zu engen Grenzen. Daß es zudem noch ein „Speckgürtel“ ist, der es fesselt, ist schlicht grotesk.
Dieser noch ständig wachsende Speckgürtel jenseits, aber am Rande der Landesgrenzen macht überdeutlich, daß Bremens Wirtschaftskraft ungebrochen und expansiv ist. Die sehr bald nach dem Kriege willkürlich festgelegten Grenzen halten dieser dynamischen Entwicklung heute nicht mehr stand. Die Wirklichkeit stimmt mit den politischen Verhältnissen nicht mehr überein. Bremen ist Mittelpunkt einer Region, deren Gebiet sich nicht mit seinen Grenzen – hier gar Landesgrenzen! – deckt.
Die einzig logische Schlußfolgerung kann nur sein, daß also Bremens Grenzen der Wirklichkeit angepaßt, nämlich neu zu ziehen sind. Alle anderen Überlegungen sind politische Krücken, an die sich zu halten unverantwortlich ist. Die jetzigen Verhältnisse aber werden immer unhaltbarer. Nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen. Bremen verliert sein Gesicht, „es hängt am Tropf“, es wird zum Bittsteller, wir Bremer verlieren unser Selbstbewußtsein und unsere Selbstachtung. Dies gefährdet die Selbständigkeit mehr noch als wirtschaftliche Rückschläge, – auch gar wenn diese Ausmaße wie die gegenwärtige Krise um den Vulkan annehmen.
Es ist einfach nicht erlaubt, in einer solchen Lage, in der sich Bremen heute befindet, nach bequemen Auswegen zu suchen. Aus Schwächlichkeit gebastelte Konstruktionen haben noch nie zum Erfolg geführt. Wenn Not gewendet werden muß und es dazu einen Weg gibt, dann ist die Politik verpflichtet, diesen Weg – und sei er noch so dornenreich – einzuschlagen. „Die politische Unmachbarkeit“ wäre eine Bankrotterklärung, die nicht akzeptiert werden darf.
Natürlich weiß ich um zwei gewichtige Einwände:
1. Wie käme unser Nachbarland Niedersachsen dazu, Grenzen „zu seinen Ungunsten“ zu verändern? Es profitiert doch vom „Speckgürtel“, warum soll es diesen abgeben?
Nun, noch gilt, so meine ich, die Lebensregel, daß nicht begehrt werden soll, was einem nicht zusteht. Wenn Niedersachsen auf diese Weise von der Wirtschaftskraft Bremens profitiert, dann ist das ein Unrecht. Niedersachsen bereichert sich zu Lasten eines ausgezehrten Bremen. Das ist politisch nicht haltbar. Es ist überdies unmoralisch. Politik und Moral aber sind nicht Antagonismen. Das Gegenteil wäre richtig: Moral sei unbestechlicher Wächter der Politik, mehr noch, sie gibt ihr den tieferen Sinn.
2. Die Verfassung steht einer Veränderung der Landesgrenzen zwischen Bremen und Niedersachsen entgegen.
Diese Behauptung ist falsch. Die Verfassung sieht eine Veränderung der Ländergrenzen ausdrücklich vor, sie rechnet also mit der Möglichkeit solcher Notwendigkeit. Noch nie aber ist der Versuch unternommen worden, diesen Bremen von der Notwendigkeit vorgeschriebenen Weg einzuschlagen.
Bremen braucht aber jetzt den entschlossenen politischen Willen, der es vor dem Erstickungstod rettet. Und wenn es sich denn wirklich herausstellt, daß auf dem Weg zum Überleben die Verfassung unüberwindliche Hindernisse entgegenstellt, dann hat das Leben Vorrang vor dem tötenden Buchstaben. Wenn es also sich als unumgänglich herausstellen sollte, um des Lebens willen Teile der Verfassung ändern zu müssen, dann wird es höchste Zeit, daß dies endlich in Angriff genommen wird. Erinnern wir uns: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ Das war doch wohl mehr als nur ein „frommer Spruch“ – wie die Geschichte bewies.
Und dann bleibt noch ein weiteres, ein sehr beschwichtigendes, so weitsichtig und großzügig erscheinendes Argument gegen die entschlossene Tat, die Freie Hansestadt Bremen retten zu wollen. Es lautet – und auch Sie, Herr Senator, führen es im Sinn –: „Wie könnt ihr Gestrigen euch nur über die Grenzen eines Stadtstaates mit zur Zeit 680.000 Einwohnern erhitzen, während wir auf dem Wege sind, eine die Länder Europas übergreifende Union zu erbauen. Welch' ein Kleinmut! Das alles regelt sich in diesem viel größeren Rahmen doch bald von selbst.“
Solches Denken nenne ich bodenlos leichtsinnig! Wie können wir ein Gebäude Europa errichten, wenn die einzelnen Bauelemente nicht fest, d.h. politisch verläßlich und stabil sind. Europa ist und wird kein „Plattenbau“! Es besteht aus vielen, sehr verschiedenen großen und auch ganz kleinen, sehr eigen gearteten Bausteinen. Nur mit solchen Bauteilen werden wir ein Europa der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Stabilität gewinnen. Jeder bequeme Kompromiß zu Lasten anderer, jede Resignation auch zu Lasten der eigenen Identität, die nämlich nicht untergehen darf, sondern eingebracht werden muß, beschädigen Europa und bringen es in Gefahr.
Also, Herr Senator Franke, nochmal sei's gesagt: Vieles ist an Ihrer Analyse richtig, aber Sie marschieren in die falsche Richtung!
Hans Henry Lamotte
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