Rettet den Teufel!

Nicht in Freiburg oder St. Pauli, sondern in Kaiserslautern steht die letzte Bastion gegen den Fußball-Kommerz  ■ Von Joachim Frisch

Kaiserslautern ist tiefste Provinz“, giftete Bayern- Coach Jupp Heynckes im März 1991 mit glühender Birne nach der Niederlage auf dem Betzenberg. Sein Manager Uli Hoeneß stieß in das gleiche Horn: „Die können nur Ecken schießen und einwerfen.“ Für die heimischen Fans übersetzte Manni Schwabl die Tiraden ins Bayrische: „Oa Mannschaft, dia nua treatn, boaißn uan kroatzn kua, oiß Toabällnfüara – oa Oamuatszoagnis füa d' Ligoa.“ Ein Vierteljahr später hielten die Lauterer die Meisterschale hoch.

Außer den Bayern und ihren Fans feierte die ganze Nation die Helden vom Betzenberg, die wie die unbesiegbaren Gallier im Comic ihren übermächtigen Gegner zur Weißglut gebracht hatten. Der Betzenberg ward zum Symbol des Widerstands der Gedemütigten und Beleidigten gegen die Anmaßungen der Reichen und Mächtigen. Die Meisterschaft des FCK vielleicht als letzte große Auflehnung gegen die Tyrannei des Kommerzes im Fußball.

Das heutige Spiel der Lauterer in München steht unter anderen Vorzeichen. Die Bayern spielen, wie gehabt, um die Meisterschaft. Den Pfälzern aber droht die größte Schmach der Vereinsgeschichte, der Abstieg in die Zweitklassigkeit. Im schnellebigen Geschäft kräht kein Hahn nach den Verlierern. Nur ihre Trainer sind noch interessant, weil Bilder von Versagern und Spekulationen über Rausschmisse das Geschäft der Journalisten beleben. St. Pauli und Freiburg sind jetzt die Rebellen der Liga. Doch hier irrt der Zeitgeist. Der FCK ist und bleibt unersetzlich, aus fußballästhetischen Gründen. Ich will erklären, warum das so ist.

In der Pfalz ist Fußball kein Konsumgut, sondern ein Lebensgefühl. Hier ist Fußball noch tragisch und komisch, nicht show and fun. Kaiserslautern ist nicht eine mit deutschen Sekundärtugenden beschlagene Truppe von Tretern, wie das Kartell von Vereinsmanagern und Sportjournaille gern verbreitet. Die dramatischen Höhepunkte der neueren Geschichte des 1. FCK, wie das unglückliche Ausscheiden gegen den FC Barcelona im Europapokal der Landesmeister, waren alles andere als Auswüchse profanen Fußballhandwerks. Es waren Ereignissse von existentieller Tiefe. Aber neben den Tragödien gab es auch Momente fußballerischer Genialität. Erwähnt sei hier nur das legendäre 5:0 über Real Madrid im UEFA-Cup 1982, nach einem 1:3-Rückstand aus dem Hinspiel. Hannes Bongartz, Friedhelm Funkel und Hans-Peter Briegel, nicht gerade als Techniker bekannt, führten brasilianisches Kombinationsspiel par excellence vor, ein Hochamt edler Fußballkunst.

Doch es sind nicht die Highlights allein, die den FCK von der Masse der verwechsel- und austauschbaren Vereine abheben. Es ist eine Synthese von Fußball und Dasein, Spiel und Leben, eine tiefere Wahrheit als die der Punkte, Zuschauerzahlen und Ablösesummen. Kaiserslautern zählt weniger als 100.000 Einwohner, nicht mal halb soviel wie Uerdingen oder Freiburg, die angeblich Kleinen der Bundesliga. Und doch hat Kaiserslautern mehr Persönlichkeiten des Fußballs hervorgebracht als manche Halbmillionenstadt, keine adretten Modellfußballer, sondern kantige, kauzige und komische Typen. Nicht nur Fritz und Ottmar Walter, auch Mario Basler und Hans-Peter Briegel sind waschechte Lauterer. Die Roten Teufel sind die wahren Underdogs der Liga, von allen Seiten gescholten, mißverstanden und denunziert.

Kaiserslautern liegt in der Westpfalz, einem strukturschwachen Gebiet, näher an Frankreich als an Frankfurt. Nur Insider wissen um die Kluft zwichen Westpfälzer und Vorderpfälzer (Oggersheimer!) Mentalität. Kaiserslautern hat nichts zu tun mit Saumagenfolklore. Die vernachlässigte Region kämpft um das wirtschaftliche Überleben. Sollten die amerikanischen Streitkräfte, die 10.000 Menschen beschäftigen, abgezogen werden, wird die Arbeitslosenquote die von Bitterfeld übersteigen.

Komme jetzt keiner mit Kleinstadtmief! Kaiserslautern ist Provinz, und Kaiserslautern ist kosmopolitisch. Basta. Als in anderen Stadien Schwarz, Rot und Gold wieder en vogue wurde, in manchen gar die Reichskriegsflagge, sah man auf dem Betzenberg nur Rot und Weiß sowie Blau und Gelb, die Vereinsfarben und die schwedischen Nationalfarben. Die Schweden Roland Sandberg und vor allem Ronnie Hellström, seinerzeit einer der besten Torhüter der Welt, wurden in Kaiserslautern verehrt, als andernorts wieder martialische „Deutschland, Deutschland!“-Rufe erschallten. Kaiserslautern, das ist die undeutscheste Bundesligastadt, das ist am Samstag „eine kultische Raserei, eine knapp zweistündige Kollektivpsychose“ (Die Zeit), das ist anarchische Widerborstigkeit. Kaiserslautern steht für die einzige wahre Rebellion der Kleinen gegen die Großkopferten aus Dortmund, Hamburg und München, der Provinz gegen die Metropolen, der Peripherie gegen das Zentrum, der „da unten“ gegen „die da oben an der Basis“ (zugegeben, das Zitat stammt von einem Hamburger Briefträger, paßt aber einfach zu gut).

Kaiserslautern, der Verein, die Mannschaft, die Fans; die Dramen, Tragödien und Komödien; die Geschichte der Erfolge, Euphorien und Ekstasen, der Enttäuschungen, Verzweiflungen und Demütigungen: das ist ein Gesamtkunstwerk, wie die Bundesliga bislang nur noch zwei weitere hervorgebracht hat, deren Glanz jedoch stumpf geworden ist: Gladbach in der Zeit Netzers und (knirsch) Bayern München mit Beckenbauer und Müller.

Wer Freiburg und St. Pauli als Institutionen des fußballerischen Klassenkampfes in dieser Aufzählung vermißt, der möge folgende Fragen beantworten: Was ist die narzißtische Beklatschung der eigenen Anwesenheit nach einer Niederlage gegen die Verzweiflung eines Lauterer Fans? Was sind die artigen Ovationen für brave Spielkultur im Freiburger Dreisam-Stadion gegen die eruptiven Entladungen auf dem Betzenberg? Wo werden Freistöße und Eckbälle in Sonetten besungen, wie dies Ludwig Harig in „Die Eckbälle von Wankdorf“ als Hommage an Fritz Walter und wie das Paul Baldauf mit dem „Freistoß- Sonett“ als Hommage an Miroslav Kadlec getan hat? Wo sonst gibt es eine Band, die dem Geist eines Fußballclubs ihre Inspiration schuldet und dies mit ihrem Namen dankt, wie die Lauterer „Walterelf“?

Der Nimbus der Retortenrebellen Freiburg und St. Pauli beruht auf ein paar Fans aus der linken Szene und einem Gymnasiallehrer mit Brilli im Ohr als Trainer. Der SC Freiburg steht für die Utopie einer alternativen heilen Welt, für Fußball als Öko- und Soziotop, kunstgewerbliche Schwärmerei. St. Pauli ist eine Zufluchtstätte desorientierter Exlinker, Ersatzidentität heimatlos gewordener Pseudorevolutionäre. Der Fußball ist dort jeweils von sekundärem Wert, ist Mittel zum Zweck, Instrument politischer Ansinnen. Damit sind die Vereine austauschbar. Auch der VfL Bochum und der SV Meppen können diese Funktion erfüllen.

Die Faszination des Phänomens FCK wurzelt tiefer. Der FCK steht nicht für eine Gesinnung, sondern für existentielle Erfahrung: Leidenschaft, Schmerz, Ausschweifungen, Grenzgänge und Grenzüberschreitungen. Deshalb läßt er sich vor keinen Karren spannen. Wo man andernorts sich mit Haltungen identifiziert, sperrt sich das Phänomen FCK gegen die Zumutung der Identität. Adorno hat den paradoxen Charakter der Kunst, ihre Verweigerung gegen ihre Funktionalisierung auf den Punkt gebracht: „Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit.“

Nur noch in Kaiserslautern verweigert sich der Fußball jeder Vereinnahmung. Das Phänomen Kaiserslautern glättet nicht Widersprüche mit ökodynamischer Sanftmut, sondern verschafft ihnen unverstellten künstlerischen Ausdruck. Ein Abstieg des 1. FCK wäre deshalb eine kulturelle Katastrophe für den deutschen Fußball. Ich schwöre, das ist die Wahrheit, so wahr mir der Fußballgott helfe, den Teufel zu retten, den roten.