"Hör auf!"

■ Der Terror militanter korsischer Nationalisten gegen kritische Journalisten hat jetzt auch Paris erreicht

Guy Benhamou trägt sie jetzt täglich mit sich herum. Mit zittrigen Händen kramt er sie aus der Hosentasche. „Scheiße – die haben das tatsächlich getan“, sagt er – immer noch ungläubig. Vor einer Woche fand er die goldfarbenen Patronenhülsen in seinem Wohnzimmer in Orsay, in der Pariser Vorstadt. Leer. Von Unbekannten durch die Hauswand geschossen. Die Waffe, eine israelische Uzi, lag im Vorgarten.

Seither ist der Korsika-Spezialist von Libération heimatlos. Bodyguards des Innenministers begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Benhamou trägt eine kugelsichere Weste und schläft jede Nacht an einem anderen Ort. Zu dem Attentat hat sich niemand bekannt. Sprecher der bewaffneten korsischen Nationalistengruppe „FLNC-Canal historique“, die Libé für verantwortlich hält, haben die Schüsse als „Provokation“ verurteilt. Die polizeilichen Ermittlungen haben nichts ergeben. Der Innen- und der Justizminister schweigen.

Seit vier Jahren schreibt Benhamou über Korsika. Über ein Dutzend Male ist er für Recherchen auf der Insel gewesen. Er hat über die „Revolutionssteuern“, die die Kämpfer bei den Geschäftsleuten eintreiben, berichtet. Über den Betrug mit den Wirtschaftssubventionen aus Brüssel. Über die Morde zwischen verfeindeten Nationalisten. Und über die Verhandlungen zwischen der Pariser Regierung und der gewalttätigsten aller korsischen Gruppen, dem „FLNC-Canal historique“. Direkt vor dem Attentat saß er an einer bislang unveröffentlichten Recherche über das Versickern günstiger Regierungskredite im Nationalistenmilieu. Eine halbe Milliarde Francs, als Entwicklungshilfe für die örtliche Wirtschaft gedacht, verschwand, ohne auch nur einen Arbeitsplatz zu schaffen.

Ende 1994 bekam er seine erste Drohung. Ein Artikel über die dubiose Herkunft der Finanzen des „FLNC-Canal historique“ war der Stein des Anstoßes. Wann immer er seither über die enge Zusammenarbeit zwischen „Befreiungskämpfern“ und Geschäftswelt schrieb, häuften sich die vehementen Reaktionen. Mal rempelte ihn jemand auf offener Straße in Bastia an, mal ließ ein Nationalist die Botschaft mitten im Interview fallen: „Hör auf!“ Ende vergangenen Jahres trat Benhamou die Flucht nach vorn an und berichtete im Fernsehen über die Drohungen. Er wollte „verhindern, daß Ernst daraus wird“.

Zu Schüssen gegen Journalisten war es bis zur vergangenen Woche nicht gekommen. Doch die Einschüchterung von kritischen Beobachtern gehört längst zum Alltag militanter korsischer Nationalisten. Der Pariser „France2“-Journalist Claude Sempere unterscheidet vier Techniken, die in angespannten Situationen auf der Insel zum Einsatz kommen: Die Telefonbotschaft mit unverstellter Stimme: „Großes Schwein, deine Sendung vergessen wir nicht“. Die Besuche von „Bekannten von Bekannten“, die nach Paris kommen, um auszurichten, „du bist zu weit gegangen“. Die Prügel für einen Freund auf Korsika, verbunden mit einem „Gruß an Claude“. Und die „rote-Punkt-Methode“, bei der Leuchtpunkte, wie sie im Visier einer Schußwaffe vorkommen, auf Hand, Bein oder Herz des Opfers projiziert werden. Sampere erlitt sie erstmals letztes Jahr in Bastia.

Die meisten lokalen Medien behandeln die militanten Nationalisten mit Vorsicht. Über die „Pressekonferenzen“ von vermummten und schwerbewaffneten Kämpfern berichten sie, als wäre das die normalste Sache der Welt. Wer Kritik wagt, wird in seine Schranken gewiesen. Der Sprengsatz an einer der Zweigstellen der Corse Matin im Dezember 1992 war eindeutig: Die Urheber aus dem nationalistischen Milieu erklärten ihr Attentat als Strafe für einen „falschen Umgang“ mit ihren Kommuniqués.

Bislang waren die Einschüchterungen kein öffentliches Thema. Die Betroffenen suchten individuelle Lösungen und glaubten nicht daran, daß die Nationalisten zur Tat schreiten würden. Von den Behörden bei ihrer Arbeit unterstützt fühlt sich keiner der Korsika-Berichterstatter. Im Gegenteil: „Die Regierung muß aufhören, mit Mördern und Attentätern zu verhandeln. Das ist nur eine kleine Minderheit, die keinesfalls repräsentativ für das große Lager der korsischen Nationalisten ist“, kritisiert Fernsehjournalist Sempere.

Guy Benhamou, das Attentatsopfer, hat in den letzten Tagen Anrufe aus dem nationalistischen korsischen Milieu bekommen, die sich von den Schüssen distanzieren. Doch das beruhigt ihn nicht besonders. Auch seine Überzeugung, daß die Schüsse auf sein Haus fatale politische Folgen für die „korsische Sache“ haben könnten, hilft ihm nicht weiter. Er hat sich erst einmal aus der Korsika-Berichterstattung ausgeklinkt. Aber seine Zeitung berichtet täglich in großer Aufmachung über den Konflikt. Jetzt erst recht. Dorothea Hahn, Paris