Wo, bitte, bleibt der Treibhauseffekt?

■ 1995/96: Ein ganz normaler Winter. Die Deutschen sind bloß zu verwöhnt

Der Schuldige kommt selbstverständlich aus Rußland. Er hört auf den typisch russischen Namen „Martin“. Das so getaufte Kältehoch hält Mitteleuropa seit drei Wochen eisern im Griff. Und Deutschland friert und friert. Und jammert und jammert. Doch dazu, liebe LeserInnen, besteht nicht der geringste Anlaß: „Der jetzige Winter“, sagt Dieter Wesp vom Deutschen Wetteramt Offenbach, „ist ein ganz normaler mitteleuropäischer Winter. So sollte er sein.“ Das Problem ist nicht Martin mit seinem lausekalten Ostwind, sondern der verwöhnte Deutsche. Die letzten Winter seien eindeutig zu milde gewesen, und die Leute denken, das gehe jetzt so weiter. Von wegen Krokusse und Hormonschübe im Februar, Grillparties im März.

In diesem Jahr ist der Winter an seinen angestammten Platz zurückgekehrt. Mit minus 25 Grad auf der Zugspitze am 27. Februar zeigte der alte Mann, was er noch draufhat. Der Brocken meldete minus 20 Grad am 25. Januar. Mit diesen Werten läßt sich aber noch lange kein Jahrhundertwinter machen. Bei Herrn Wesp rangiert die kalte Jahreszeit 95/96, zurückgerechnet bis 1955, denn auch nur auf dem undankbaren vierten Platz.

Der kälteste Winter nach der heißen 68er-Revolte

Die Berliner Meteorologen verteilen die Superlative etwas generöser. Sie nennen den abgelaufenen Winter „den kältesten seit 1969/70“, als nach der heißen 68er Revolte eine empfindliche Abkühlung einsetzte. In Berlin wurden an den 91 meteorologischen Wintertagen vom 1. Dezember bis zum 29. Februar 1996 exakt 85 Frosttage registriert und ein Temperaturschnitt von minus 3,0 Grad. Ganz anständig!

Die Großwetterlage war dabei durchaus prototypisch. Als westlicher Wurmfortsatz geriet Deutschland unter den Einfluß eines bodennahen Kältehochs der asiatischen Kontinentalscholle. Die mildere Luft vom Atlantik konnte gegen die „ungeheuer trägen Luftmassen“ aus Osten nicht anstinken. Und weit und breit war kein Sturmtief in Sicht, das die Russenkälte hätte wegpusten können. Also blieb es kalt.

Doch jetzt wird alles anders: Milde Mittelmeerluft drängelt gen Nordost und beschert dem Bodensee heitere 18 Grad. Selbst die geographische Mitte der Republik brachte es schon am Freitag auf 14 Grad. Nur im Osten bleibt es weiter „für die Jahreszeit zu kalt“. Dafür haben die Zonis einen blauen Himmel und Sonne satt. Nächste Woche wird „Martin“ weiter an Boden verlieren und der Frühling sich endlich auch im Osten durchsetzen. Sagt das deutsche Wetteramt.

Und die Klimakatastrophe? Der Treibhauseffekt? Wo sind sie geblieben im kalten Winter? Erfroren? Ganz dumme Frage: „Wir können Klimaverschiebungen nicht an Wetterphänomenen erkennen“, wird der Frankfurter Klimaprofessor Christian Schönwiese nicht müde zu erklären. Für die Forscher zählen Langzeittrends. In den letzten 100 Jahren hat die Oberflächentemperatur der Erde um 0,7 Grad zugenommen, die Gebirgsgletschermasse um 50 Prozent abgebaut, ist der Meeresspiegel um 15 Zentimeter angestiegen. Und die wärmsten acht Jahre dieses Jahrhunderts wurden allesamt in den 80er und 90er Jahren gemessen. 1995 war das wärmste Jahr seit Beginn der Temperaturmessungen von 1860. Nie zuvor in den letzten 135 Jahren war es so warm auf der alten Erde. Und 1995 gehörte zu den drei schlimmsten Sturmjahren seit 1871, dem Beginn der Sturmaufzeichnungen.

Ein einziger kalter Winter ist im Vergleich mit dieser Macht des Faktischen nur der sprichwörtliche Furz im lauen Abendwind. Die schicke Schlagzeile „Prima: Russenkälte rettet unser Klima!“ kann leider nicht gedruckt werden. Manfred Kriener