Todsünden und Kraftgesten

■ Rückblick auf drei Hamburger Theaterpremieren vom Wochenende

Tschechow im TiK

Vor der legeren und kunstvollen Eleganz, die üblicherweise aus dem Thalia ins TiK hinüberschwappt, wurden am Samstag zwischen Foyer und Bühne die Fluttore geschlossen. Im Bühnenraum wähnte man sich in einer schwarz geteerten Kiste, fest zugenagelt.

Dabei hätte der Starrheit, mit der Tschechows Auf der Großen Straße unter der Regie von Dimiter Gotscheff zur Aufführung kam, ein kleines Entspannungsbad gut getan. Als ob's ums Überleben ginge, inszenierte Gotscheff Tschechows finstere Geschichte sieben Reisender, die vor einem miserabel herunterschüttenden Sau(f)wetter ins unwirtliche Wirtshaus fliehen.

Sieben Gestrandete, deren Seelen bereits angekommen sind und sich in sogenannten Charakteren festgesetzt haben. Der geizige Wirt verweigert dem elenden Trinker beharrlich den Wodka, so wie der derb hereinfallende Mordskerl dem träumenden Wanderer seine Bettstatt wegnimmt. Die bigotte Wallfahrerin kauert betend über dem alten Pilgersmann, dem die Füße schon ganz faulig sind, als wolle sie ihn totbeten.

Die sieben Todsünden könnten es nicht schöner miteinander haben. In diese Teilnahmslosigkeit fällt Kuzma ein und erkennt in dem heruntergewirtschafteten Säufer seinen ehemals stattlichen Gutsherrn. Bildreich plaudert er die Geschichte Borcovs aus, der in der Nacht seiner Hochzeit von seiner schönen Frau Marja verlassen wurde, der er seitdem verarmt und trinkend hinterhertrauert.

Dieser Verrat belebt die Emotionen der Gäste, da lassen Wetter und Zufall Marja im Gasthaus Schutz suchen. Sie kann fliehen, bevor an ihr Rache genommen wird. Im Gasthaus kehrt Ruhe ein.

Ruhe kehrte auch beim Publikum ein und zwar lähmend und anstrengend. Vorab sei gesagt, daß Hannes Hellmann den mörderischen Landstreicher Merik so brillant zähnebleckend, grob und schaurig mimt, daß es die Sau graust und man froh ist, in der Bretterbude etwas hinten zu sitzen. Während man Samuel Fintzi als Semen Borcov schon bei seiner ersten Bitte um Woooooodka die ganze Flasche gereicht hätte. Wie er die feinen Formen des Gutsherrn in seine trunkene Blödheit mit einfließen läßt und sich mit rotunterlaufenen Augen selbst zum Esel macht, darauf kann man das Glas heben.

Der Rest der Inszenierung blieb undurchsichtig wie ein lichtloser Raum. Galt sie als Fingerzeig der viel gefrönten Trunksucht in der Schauspielerei? Sollte sie zeigen, daß auch mit schlechten Kostümen und null Requisite Theater gemacht werden kann? Oder wollte Gotscheff erinnern, daß Tschechow auch Mediziner war, sezierend und mit zu vielen Leberzirrhosen beauftragt? Nein, wahrscheinlich sollte klargestellt werden, daß Trinken einen um den Verstand bringt.

Elsa Freese

Kresniks „Macbeth“

Nüchtern betrachtet besitzt die Grundidee dieses Stückes die Qualität von AStA-Polit-Theater mit viel studentischer Selbstüberschätzung: Warum nicht einfach die Geschichte von Macbeth mit Barschel illustrieren? Und da diese Idee auch in weidlicher Größe Polit-Freakismus bleibt, kann auch ein Johann Kresnik mit seinem bilderfetten Tanztheater daraus keine schlüssige Dialektik formen. Die Geschichte von Macbeth hat mit der Selbstzerstörung des ehemaligen schleswig-holsteinischen Regierungschefs auf einer „irgendwie“ allgemeinpolitischen Ebene „irgendwelche“ banalmoralischen Gemeinsamkeiten. Mehr nicht.

Mehr zu behaupten führt deshalb logisch zu einer Vergewaltigung Shakespeares oder einer Verstrichmännchigung politischer Tollwut. Zumindest im Sprechtheater. Im Tanztheater bleibt ja immer noch die Chance, scheinbare Analytik so in symbolischen Handlungen auszustellen, daß der Schwarze Peter der Enträtselung ans Publikum weitergereicht wird: Das könnte etwas damit zu tun haben, dies aber auch nicht. Für Gesprächsstoff ist gesorgt, aber im Subtext steht unüberhörbar deutlich: „Vergeßt Barschel!“ Und daran mußte man sich bei diesem Gastspiel der Berliner Volksbühne am Wochenende im Schauspielhaus tunlichst halten.

Zwar sieht man viele Badewannen – das ganze Orchester ist eine –, und Uwe, König zwergischer Geisteshaltungen, endet auch in einer solchen, aber damit sind die gequälten Hinweise auch schon ausgequält. Der Rest ist Kresnik-typische Bildopulenz und eine harte Stunde zu lang. Zuviele Fülsel, die nichts weiter tun, als Tänzer zu beschäftigen oder dröge Provokationen zu zelebrieren, die in müder Wiederholung die Ekelgrenze malträtieren, sammeln sich zu echter Langeweile. Blut, Blut und nochmals Blut führt eben zu Blutleere.

Doch der Abend hat auch viel Großartiges zu bieten: beeindruckende Bilder, die mit der Mächtigkeit verkehrter Größenordnungen spielen (Bühne: Gottfried Helnwein), spannende Klaviermusik von Kurt Schwertsik und ein Ehepaar Macbeth, das den tödlichen Kampf um die Macht als inszestuösen Geschwisterkrieg tanzt.

Doch in diesem Balanceakt zwischen Unmut und Begeisterung entscheidet dann doch der humorlose Pessimismus Kresniks, die Leichenbittermiene, mit der er seine Vorhaltungen über die Schlechtigkeit der Macht choreografiert, für das Senken der murrenden Waagschale. Wenn die Darstellung von Verrohung dazu dient, Optimismus als Heuchelei zu denunzieren, und das selbstgewählte Tagwerk allein im Ausheben ideologischer Massengräber besteht, dann gehen die entscheidenden Teile des Lebens dabei verloren: Lust, Liebe, Vernunft. Und was bleibt? Kraftgesten. Der Künstler beim Inzest mit den Zuständen. Till Briegleb

Container

Wer sich das neue Stück von Eva-Maria Martin ansehen möchte, der sollte kampnagel-typische Erwartungen zu Hause lassen. Denn in Container, einem Stück über bosnische Kinder im Exil, treten ebendiese auf, und damit ist schnell erklärt, daß den Darstellern – zwischen 9 und 15 Jahren alt und allesamt Schauspiellaien – hier eine mögliche künstlerische Distanz zu dem Thema fehlen muß.

Das ist prinzipiell in Ordnung, und dank der einfühlsamen Umgangsweise der Regisseurin mit den Kindern ensteht auch weder Betroffenheitskitsch noch peinlicher Dilettantismus. Aber mit der Einordnung des Projektes in das normale Theaterprogramm von Kampnagel tut man der Produktion keinen Gefallen. Denn natürlich wird dem erwachsenen Publikum bei der charmant-unvollkommenen Szenencollage aus kleinen Spielszenen, sitzendem Textvortrag und Musikintermezzi eine gehörige Portion Goodwill abverlangt. Alles andere wäre nach einem halbjährigen Probenprozeß auch ein großes Theaterwunder gewesen.

Daß Martin die spielerische Unsicherheit als entschärfende Verdoppelung in das Stück, das teils aus dem Interview-Buch Herzschmerzen, teils aus Szenen der Probenphase entwickelt wurde, mit einbaut, gibt diesem Theater schützenden Raum. Aber ein wirklicher Dialog, ein Wiedererkennen und Neugierwecken an den Belastungen, denen die Vortragenden auch in ihrer Wirklichkeit ausgesetzt sind, kann eigentlich nur in einem Forum Gleichaltriger passieren, die auf diese künstlerische Mutprobe von der Warte desselben Erfahrungsstandes sehen.

Till Briegleb