J.S. Bach – nur zweite Wahl?

■ Im Gespräch: Andrea Huckschlag-Behrens, die die seit Jahrhunderten nicht mehr gespielte Johannes-Passion von Telemann dirigiert

Seit zwei Jahren hat Andrea Huckschlag-Behrens die musikalische Leitung des Collegium Musicum Bremen, eines Laienchors und -orchesters, übernommen; sie ist außerdem Kirchenmusikerin in Delmenhorst. Morgen ist in Bremen eine musikalische Rarität zu hören: die 1737 geschriebene Johannes-Passion – nicht von Johann Sebastian Bach, sondern von Georg Philipp Telemann, Bachs damaligem Konkurrenten. Vielleicht kann die Aufführung des Werkes, das seit Jahrhunderten in Norddeutschland nicht mehr gespielt wurde, verständlich machen, daß für die Leipziger Johann Sebastian Bach zweite Wahl war; eigentlich wollten sie den Thomas-Kantor Telemann.

taz: Frau Huckschlag-Behrens, wie kamen Sie auf das unbekannte Werk?

Andrea Huckschlag-Behrens:Ich wollte was anderes machen und habe gewühlt. Zu der Entscheidung kann ich nur sagen: Lust, reine Lust. Das Werk hat unglaublich viele Facetten, die mich sofort reizten. Bei Bach gibt es ja die Aufteilung in drei Ebenen: die rezitativische Erzählung des Evangelientextes, die dazugedichteten, betrachtenden Arien und als Reflex der Gemeinde die Choräle. Bach hat in Leipzig 1724 die Johannnes-Passion und 1727 die Matthäus-Passion geschrieben und aufgeführt.

Wie war das bei Telemann, der seit 1721 alle fünf Hauptkirchen in Hamburg leitete?

Also es ist auch ganz klar eine liturgische Passion, d.h., das Werk wurde im Gottesdienst gespielt, von diesen Werken sind von Telemann 46 erhalten. Aber ich glaube nicht, daß, wie bei Bach, die Predigt das Werke zweiteilte. Es gibt zwar eine ähnliche Aufteilung wie bei Bach, aber auf den zweiten Blick ist doch alles viel mehr ineinanderverwoben. Man kann die Ebenen nicht so trennen wie bei Bach. Die Choräle haben auch dramatische Funktion, die Arien auch erzählerische und so fort. Es gibt ebenfalls den Tenorevangelisten, und dann ist für mich ganz klar, daß die Choräle die damalige Gemeinde auch wirklich gesungen hat.

Was ist weiter ästhetisch anders als bei Bach?

Es gibt wahnsinnig verschiedene Bilder, auch Theaterbilder, und naturhafte Stimmungen. Zum Beispiel gleich die erste Arie, die ein Duett ist. Man hört das „sanfte Gemurmel von sprudelnden Quellen“, man sieht „holde Gärten“, in denen die Passionsgeschichte beginnt. Diese Naturschilderungen, die ganz einfach sind, die sich nur ans Gemüt wenden, sind wunderbar. Die Hirten-Arie mit den beiden Blockflöten, das ist eine Idylle am Rand des Kitsches, aber unglaublich schön. Da ist Telemann auch schon in einem neuen Zeitalter, vieles erinnert an Haydn.

Bei Bach sind ja die Arien immer ein meditativer Einhalt. Bei Telemann?

Ganz anders. Viele klinken sich in den dramatischen Ablauf ein, beziehen Stellung, sind sozusagen eine Rolle oder erzählen etwas, was eben auch über einen raffiniert gestalteten Orchesterpart unterstützt wird. Von einer Arie träume ich immer: Da sehe ich die Fratzen am Bremer Dom und anderes. Da ist von Dunkelheit und Schatten und von der Pest in der Finsternis die Rede. Die Musik hat eine peitschende theatralische Atmosphäre.

Gibt es Rollen?

Ja, kann man fast so sagen. Zum Beispiel ist die Szene mit der Mutter bei Bach im Rezitativ erledigt, bei Telemann hat Maria nicht nur ein langes Rezitativ und eine Klagearie, es folgt auch noch ein Terzett zwischen Jesus, Johannes selbst und der Mutter. Dieses ganze Leid der Maria, ihre Anklage, Ihre Trauer, ihre Ratlosigkeit ..., das wird fast körperlich erfahrbar.

Wo ist denn das theologische Zentrum von Johannes, so wie Telemann es sieht?

Ganz sicher ein anderes als bei Bach. Bach hat im Zentrum die Erhöhung des Menschen durch die Erniedrigung Jesus'. Bei Telemann ist es die Stelle: „Sehet, welch ein Mensch!“ Dieser Chorsatz, kein Choral, sondern betrachtende Reflexion, ist übrigens der längste des ganzen Stückes.

Die ganze Komposition hat ein hohes inneres Tempo ...

Auch äußerlich. Ich versuche sehr stark, der Dramatik Rechnung zu tragen, wähle energische Tempi.

Der technische Anspruch scheint mir nicht ohne. Stimmt das?

Das Stück ist schwer, sehr sehr schwer. Aber es ist dankbar, weil es so viel kraftvollen und direkten Ausdruck gibt.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Am Dienstag abend um 20 Uhr in der Kirche Unser Lieben Frauen: Georg Philipp Telemann, Johannes-Passion 1737. Solisten, Chor und Orchester des Collegium Musicum Bremen, Leitung: Andrea Huckschlag-Behrens.