"Ich hasse das Wort Roman"

■ V.S. Naipaul hat die fiktionale Literatur aufgegeben und recherchiert zur Zeit in Pakistan in Sachen islamischer Fundamentalismus. In Lahore gab er ein Interview, das in der britischen Presse einigen Tumult ausl

Wie würden Sie das Buch beschreiben, an dem Sie gerade arbeiten?

V.S. Naipaul: Als Teil meiner Arbeit, meines Schreibens, der Art, wie ich die Welt sehe, in der ich lebe. Diese Vorstellung von Kategorien, in die man Literatur einteilt, ist ein bißchen absurd. Sie geht davon aus, daß es nur eine Art von Schreiben gibt, die von Bedeutung ist, und zwar das sogenannte „kreative Schreiben“, und darunter wiederum wird dann meist der Roman verstanden. Kreatives Schreiben kann sich mit Kunst beschäftigen oder mit Biographien, mit Geschichte. Meine Bücher muß man dann „Reiseliteratur“ nennen, aber das ist irreführend, weil früher Reiseliteratur vor allem von Männern über die Routen geschrieben wurde, die sie benutzt hatten. Das hat mich wirklich fasziniert, als ich Curzons 1890 publiziertes Buch über den Iran las, „Persien und die persische Frage“, mit welcher Sorgfalt die Route und die Zwischenstopps beschrieben waren. In der Kolonialzeit feierte der Reisende auf diese Weise seine Persönlichkeit.

Was ich mache, ist etwas völlig anderes. Ich reise, um eine Nachforschung zu unternehmen. Ich reise nach einem bestimmten Thema. Ich bin kein Journalist. Die Bücher, die ich jetzt schreibe, diese Nachforschungen, sind eigentlich konstruierte Erzählungen. Da ist zunächst die Reiseerzählung selbst, in die dann aber viele kleine Erzählungen eingewoben sind, was zusammen eine bestimmte Struktur ergibt. Ich habe 30 Jahre gebraucht, um sie zu entwickeln.

Glauben Sie, daß Sie jemals wieder einen reinen Roman schreiben werden?

Ich hasse das Wort Roman. Ich verstehe überhaupt nicht mehr, warum es wichtig sein soll, erfundende Geschichten zu schreiben oder zu lesen. Es gibt soviel Dringenderes zu lesen oder zu verstehen. Wir leben in einem außergewöhnlichen Moment, in dem uns sehr viel Wissen zur Verfügung steht, das man vor hundert Jahren noch nicht hatte. Wir können jetzt Bücher lesen über indische Kunst, die Kulturgeschichte Südostasiens, chinesische Kunst... Ich sehe Lesen nicht als einen Weg zur Selbstbetäubung mittels einer Erzählung. Das brauche ich nicht. Ich finde diese andere Art des Lesens außerordentlich aufregend. Es gab mal eine Zeit, da verschaffte einem fiktionale Literatur genau die Art von Entdeckungen, über die wir vorhin sprachen. Entdeckungen über die Natur der menschlichen Gesellschaft.

Ich glaube, daß die wichtigsten fiktionalen Werke im 19. Jahrhundert, vor allem zwischen 1830 und 1895 geschrieben wurden. Ich habe den Eindruck, daß alles, was danach kam, mehr oder weniger Variationen dieser Werke waren. Balzac hat das moderne Frankreich kreiert und entdeckt, und das bleibt eine ungeheuer originelle Leistung.

Man kann heutzutage leicht den Eindruck haben, daß die asiatische Literatur auf eine Weise vital ist, die der englischen abgeht. Aber diese Vitalität kommt daher, daß die Form geborgt ist, in die dann einfach neues Material gegossen wird.

Formen sind etwas Dynamisches. Vor dem Roman gab es in Europa den Essay, Balladen, Theater, Epen – all diese hat man zu den verschiedenen Zeiten für die wichtigsten gehalten. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum wir den Roman zur einzig gültigen Form erklären sollten. Die Tatsache, daß Leute über Romane und das Schreiben an den Universitäten lehren, bestätigt mich da nur. Ich habe kürzlich Romane aus Südostasien gelesen, die sich überhaupt nicht mit dem eigenen Kontinent beschäftigen, sondern mit Amerika und den dortigen Universitäten.

Halten Sie den enormen Boom und die Popularität von postkolonialer Literatur für irrelevant?

Nein, ich sage nur, wir sollten nicht etwas für vital und eigenständig halten, was nur aus Erstveröffentlichungen besteht.

Sie haben drei berühmte Bücher über Indien geschrieben. Haben Sie über das Land und seine Bewohner noch etwas zu sagen?

Ich habe am Ende eines Buches gern das Gefühl, sterben zu können. Ich könnte beruhigt sterben, weil ich alle meine Beobachtungen verwendet habe. Ich habe nichts mehr zu sagen. Aber was wirklich passiert, wenn man etwas abschließt, ist, daß man einfach so weiterlebt und neue Dinge sich entwickeln. Wenn ich zu entsprechenden Kräften komme, gehe ich vielleicht noch einmal nach Indien. Aber im Moment will ich nicht. Mein letztes Buch [„Indien – Ein Land in Aufruhr“], das ich 1988/89 geschrieben habe, muß jetzt mindestens eine Dekade vorhalten.

Wie vermeiden Sie es, daß Ihre Texte veralten, wenn Sie immer nur Bücher schreiben, die eine spezifische Zeit und einen spezifischen Ort beschreiben?

Die Bücher machen sozusagen einfach weiter. Das einzige Buch, das ich über die Karibik geschrieben habe [„The Middle Passage“, 1962] wurde gerade in zwei oder drei wichtige Sprachen übersetzt. Natürlich werden sie im Lauf der Zeit historisch, aber ich hoffe, daß sie einige Erklärungen dafür bieten, was sich möglicherweise in zwanzig oder dreißig Jahren ereignen wird. Ich glaube nicht, daß „Eine islamische Reise. Unter Gläubigen“ [1981] überholt ist: es entwickelt sich noch immer. Schade, daß das Buch damals nicht ernster genommen wurde; die Leute hätten möglicherweise die Gefahren des Fundamentalismus früher gesehen.

Wie steht es mit englischer oder amerikanischer Literatur? Hat sie Ihnen irgend etwas zu sagen?

Ich spreche nicht über andere Leute; überhaupt bin ich eher ein Schreiber als ein Leser. Zu Beginn meiner literarischen Laufbahn habe ich Bücher rezensiert, vor allem Belletristik. Ich würde mich ungern noch einmal so einschränken müssen.

Ihr Stil wird oft als „klassisch“ beschrieben. Wie kommt man zu so einem Stil?

Es gefällt mir nicht, wenn Leute mir sagen, ich hätte einen schönen Stil. Da steckt die Vorstellung hinter, Stil sei etwas, das man nachträglich hinzufügt. Ich versuche einfach, so klar wie möglich zu schreiben, damit Gedanken auf dem Papier auftauchen. Der Stil soll dabei nicht hervorstechen, Wörter sollen nicht im Wege stehen. Es schmeichelt mir, wenn die Leute sagen, ich hätte einen „schnellen“ Stil. Damit meine ich, daß Dinge auf verschiedene und ansprechende Weise und sehr schnell gesagt werden. Um das zu erreichen, mußte ich mit 22 Jahren alles vergessen, was ich bis dahin geschrieben hatte. Ich ließ alles fallen und fing an zu schreiben wie ein Kind in der Schule. Meine frühen Bücher entstanden in acht bis zwölf Wochen. Jetzt brauche ich etwa vierzehn Monate.

Wie verhält sich Belletristik zum Fernsehen und zu Computern?

Ich glaube diese Dinge werden eine außerordentlich positive Wirkung auf das kreative Schreiben haben. Bücher werden sich direkter an die Phantasie und die Sensibilität der Leser wenden müssen. Das wird die Vorstellung vom Schreiben auf eine ganz andere Stufe heben. Ich schreibe noch immer mit der Hand, 400 Wörter an einem guten Tag, und solche gibt es etwa drei pro Woche. Dann übertrage ich es auf den Bildschirm, dann drucke ich es, so daß ich daran herumspielen kann.

Woran arbeiten Sie gerade?

Ich mache einige Ausflüge in den Islam.

Planen Sie weitere Bücher?

Das würde ich Ihnen ungern sagen, denn womöglich klappt es dann nicht. Ich bin abergläubisch. Als ich jung war, habe ich nie meine Seiten nummeriert, weil ich Angst hatte, das sei arrogant und ich würde nie ans Ende kommen. Ich habe auch nie meinen Namen auf das fertige Buch geschrieben, das ich dem Verleger dann schickte. Das waren so kleine Zaubertricks. Ich fürchte, ich habe diesen Zauber völlig verloren: Heute bin ich ganz schamlos und schreibe meinen Namen drauf und die Zahlen auf die Seiten...

Interview: Ahmed Rashid

Übersetzung aus dem Englischen von Mariam Niroumand

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