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Der rote Passat brachte den Tod

Die Brücke über die Drina ist ein Wahrzeichen Bosniens. Im Jahre 1992 wurden hier Muslime von Serben ermordet und in den Fluß geworfen  ■ Von Ed Vulliamy

Die Brücke über die schnell dahinfließende Drina in Višegrad ist ein Wahrzeichen Bosniens. „Die Brücke über die Drina“ lautet auch der Titel eines Romans des berühmtesten Autors des Landes, Ivo Andrić. In Andrićs Buch ist die Brücke sowohl Kulisse als auch stummer Zeuge der bosnischen Geschichte. Sie ist ein gewaltiges und prächtiges Bauwerk und überspannt den Fluß an einer Stelle, wo steile, gefährliche Felsen einem grünen Tal Platz machen. Das Wasser unter ihren eleganten Bögen leuchtet in einer Mischung aus Türkis und Jade.

Die Brücke wurde, wie die eingemeißelte Inschrift verkündet, im Jahre 1571 aus robustem Bimsstein gebaut, auf Geheiß des osmanischen Großwesirs Mehmet Pascha. „Unter all den Dingen, die das Leben den Menschen zu formen und bauen treibt“, schrieb Andrić, „scheint mir nichts so kostbar wie Brücken... Sie dienen keinem geheimen oder schlechten Zweck.“

Andrić, der 1975 starb, beklagte sich einmal, daß ihm ein Neubau in Višegrad den Blick aus seiner Wohnung auf die Brücke verstellte. Hätte der Autor die neunziger Jahre noch erlebt, wäre er für dieses Hindernis vielleicht dankbar gewesen. Denn in der verborgenen Geschichte des Krieges in Bosnien wurde die Brücke über die Drina mit Blut besudelt.

Sie wurde zu einem Schauplatz öffentlicher Massenhinrichtungen – durch einen Mann, den wir hier als einen der brutalsten Massenmörder des Krieges anprangern. Dieses Monstrum blieb praktisch unbekannt und wurde vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht angeklagt; er färbte die Drina mit dem Blut von Hunderten, vielleicht Tausenden Muslimen, die auf der Brücke ermordet wurden, deren Leichen in der starken Strömung flußabwärts trieben.

Einige der Leichen wurden von Jugendlichen aus dem Wasser gezogen; mit ihrem Zeugnis begann die Enthüllung der Schlächterei auf der Brücke.

Jasmin R.s frisches Gesicht verrät nicht, was er weiß. Jasmin wurde letztes Weihnachten nach Dublin evakuiert, aus einem Gefangenenlager in Serbien; dorthin hatte er sich aus der vernichteten muslimischen Enklave in Žepa geflüchtet; 1992 war er aus Višegrad nach Žepa geflohen.

Während seiner drei Jahre in Žepa galt Jasmin, bei seiner Ankunft 14 Jahre alt, als zu jung zum Kämpfen. Statt dessen schickte man ihn in den Weiler Slap, einen abgelegenen Verbindungspunkt zwischen den Flüssen Drina und Žepa. Dort mußte er in kleinen Booten aufgedunsene Leichen aus der von Višegrad kommenden Drina ziehen und sie, häufig unter serbischem Beschuß, an Land bringen und dann anständig begraben.

„Wir hoben die Gräber aus“, berichtet er ruhig, „und begruben 180 Menschen. Manche kannte ich persönlich, sie waren meine Nachbarn in Višegrad gewesen.“ Die bosnische Regierung geht davon aus, daß nur etwa jede zwanzigste Leiche geborgen wurde.

Jasmins Helfer bei dieser Arbeit war Mersud C., der zur Zeit auf einem Berg an der mittelbosnischen Front stationiert ist, in einer Kaserne für ehemalige Soldaten aus Žepa. „Die Leichen kamen“, sagt Mersud, „fast jeden Tag. Männer und Frauen, alt und jung. Sie waren geschlagen und gefoltert worden, sie waren schwarz und blau, und manche waren enthauptet... Ja, und es gab auch Kinder. Meistens zehn oder zwölf, aber auch zwei Babies von achtzehn Monaten.“ 82 Leichen wurden identifiziert.

Das serbische Gemetzel an Muslimen in Ostbosnien zu Beginn des Krieges blieb weitgehend unbekannt. Von der Außenwelt unbemerkt, berichtete am 5. August 1994 ein gefangener serbischer Soldat aus Višegrad namens Milomir Obradović seinen Wärtern von der Geschichte eines Mannes: Milan Lukić. Ein UN-Polizist, Sergeant T. Cameron, machte Notizen.

Obradović erzählte, wie Lukić in Višegrad mit einem Megaphon herumgegangen war und geschrien hatte: „Serbische Brüder, die Zeit ist da, um mit den Muslimen abzurechnen“, und wie Lukić dann diese Aufgabe in Angriff genommen hatte.

Lukić, sagte er, sperrte Männer, Frauen und Kinder in Häuser ein und steckte sie in Brand. Er kam in die Fabriken, holte Arbeiter heraus und erschoß sie – die Frau eines dieser Opfer, Ligbala Raferović, zwang er dazu, eine Zeitlang mit ihm zu leben.

Lukić band einen Mann mit einem Strick an sein Auto und schleifte ihn rund um die Stadt zu Tode. Ein Mitglied von Lukićs Bande, „der Wolf“, fiel so brutal über eines der Mädchen her, die sie im Vilina-Vlas-Urlaubshotel gefangenhielten, daß die junge Jasnah Ahmespahić aus dem Fenster in den Tod sprang.

Schließlich wurde Obradović ausgetauscht. Offenbar war man sich über seinen Wert nicht im klaren. Der Zeuge war verloren. Von Obradović hat man seither nichts mehr gehört.

Mersud, der Totengräber von Žepa, kannte den Mann, dessen Opfer er aus dem Fluß zog: Sie waren Nachbarn gewesen. Lukić, jetzt um die Dreißig, wurde im Dorf Rujiste geboren, berichtete Mersud, und „schien ein guter Kerl“ zu sein. Ein anderer Nachbar namens Omar, der jetzt in Sarajevo lebt, bezeichnete Lukićs Familie als „wilde Tschetniks im Zweiten Weltkrieg“. Nach der Schule zog Lukić nach Serbien und führte in Obrenovac in der Nähe von Belgrad ein Café; als sich im Frühjahr 1992 der Krieg anbahnte, kehrte er nach Višegrad zurück. Lukić sammelte um sich eine Bande von fünfzehn jungen Männern, darunter auch sein Bruder Milos, sein Vetter Sredoje, ein Kumpel aus Belgrad namens Deyan Jeftić und der Kellner Mitar Wasiljević. Kurz darauf beging Lukić im Krieg um Višegrad den ersten Mord.

Mirsada K. war zu Hause, als sie nebenan einen Schuß hörte. Das kleine Mädchen aus dem Nachbarhaus kam herübergelaufen und sagte, ihre Mutter Bakha Zukić sei tot, in den Rücken geschossen, und ihren Vater Dzemo habe man mitgenommen. Der Mann, der den Schuß abgefeuert hatte, war Milan Lukić. Er hatte sein Auge auf Dzemos neuen roten Volkswagen Passat geworfen und war mit Mann und Auto auf und davon. Dzemo Zukić wurde nie wieder gesehen, das Auto aber überall. Seitdem galt, was eine andere Zeugin, Fehima D., sagt: „Wenn der rote Passat vor dein Haus fuhr, wußtest du, daß etwas Schreckliches passieren würde.“ So löste Milan Vukić eine Orgie der Gewalt aus, in deren Verlauf die 14.500 Muslime Višegrads verschwanden.

Die Brücke war nicht der einzige Schauplatz der Morde, aber der blutigste. Das Bauwerk ist von fast jedem Balkon und Fenster Višegrads zu sehen; die Stadt zieht sich an beiden Seiten des Tales die Hänge empor. Das Steinpflaster der Brücke bildet so quasi eine Bühne am Fuß eines Amphitheaters; die Hinrichtungen sollten so öffentlich sein wie möglich.

Von ihrem Balkon aus sah Fehida D. zu. Sie sah „Lukić in seinem Passat und dahinter die Lastwagen, die jeden Abend auf die Brücke fuhren“. Die Bande lud ihre menschliche Fracht ab und begann mit dem Morden. „Wir sahen sie bei Tag oder im Licht der Straßenlaternen, ob sie nun Männer oder Frauen oder Kinder umbrachten. Es dauerte eine halbe Stunde, manchmal länger.“

Die Serben stachen gewöhnlich mit Messern auf ihre Opfer ein, bis sie, dem Tode nahe, ins Wasser geworfen wurden. „Manchmal warfen sie Opfer auch lebendig hinunter“, erinnert sich Fehida, „und schossen gleichzeitig. Manchmal ließen sie sie eine Weile schwimmen und schossen erst dann.“

Ende Juni erhielt der Polizeiinspektor Milan Josipović in Višegrad eine makabre Beschwerde von der Verwaltung des Wasserkraftwerks Bajina Basta flußabwärts, jenseits der serbischen Grenze. Der Direktor bat, die Verantwortlichen sollten dem Strom der Leichen in der Drina Einhalt gebieten. Sie verstopften die Durchlässe in seinem Damm schneller, als sein Personal sie entfernen konnte. Der Damm liegt ein ganzes Stück flußabwärts von Jasmins und Mesuds Friedhof in Žepa – die 180 Leichen, die sie auffischten, waren nur einige der Opfer.

Hasena M. lebte in Višegrad in einer Wohnung im ersten Stock, 150 Meter vom Ufer entfernt. Bis zum 15. Juli hatte sie zwölf Tage um ihren Mann Nusret gebangt. Er war verschwunden, seit ihn sein serbischer Nachbar Dragan Tomić mitgenommen hatte.

Hasena ging um sechs Uhr dreißig zur Arbeit, wie üblich „über die Brücke“, wo sie zu dieser ungewöhnlichen Stunde Lukić bereits an der Arbeit fand. „Zwei junge Männer, die Hände auf den Rücken gefesselt“, wurden zu den Klängen seines Autoradios hingerichtet.

Zur Mittagszeit kam Lukić in Hasenas Fabrik und verkündete, die Zeit sei gekommen, um „mit den letzten Muslimen in Višegrad Schluß zu machen“. Hasena und ihre drei muslimischen Arbeitskollegen gingen früh und wählten einen anderen Heimweg. Als sie weiter flußaufwärts zur alten Brücke schauten, konnten sie mit ansehen, wie fünfzehn Männer aufgereiht und erschossen wurden. Entsetzt versteckte sich Hasena mit ihren acht- und sechsjährigen Töchtern Husreta und Nermina vier Tage lang im Haus.

Am Nachmittag des 19. Juli hielt der rote Passat vor Hasenas Wohnung, in die auch ihre Eltern und ihre Schwester eingezogen waren. Milan und Milos Lukić, mit Maschinenpistolen bewaffnet, traten die Türe auf. Hasenas Kinder spielten draußen. „Milan Lukić sagte, in der nächsten Viertelstunde werde er uns alle umbringen“, erinnert sich Hasena. Sie wurde hinausgeschickt, um die Mädchen zu holen, beschwor aber ihre serbischen Nachbarn, sie zu verstecken: Diese weigerten sich. So schlüpfte Hasena mit ihren Töchtern unbemerkt an ihrer eigenen Tür vorbei in eine leere Wohnung im dritten Stock.

Von dort aus hörte Hasena Lukićs Frage: „Wo ist die dritte Frau?“ Sie hörte ihre Mutter Ramiza nach ihr rufen, rührte sich aber nicht. Aus einem Fenster sah sie, wie Lukić ihre Mutter und ihre Schwester Asima hinaus in den Passat trieb und zur Brücke fuhr. Hasena folgte zu einem Aussichtspunkt in der Nähe einer Schule.

Mitten über dem Fluß verbreitert sich die Brücke und bildet zwei Terrassen über der Strömung; die eine wird das Sofa genannt, ein türkisches Wort. Hier steht eine Bank aus Steinplatten, wo man bequem sitzen kann, an die Brüstung gelehnt. Hasena hatte früher oft mit ihren Freundinnen dort gesessen. Aber nicht am 19. Juli.

„Ich sah mit an, wie sie meine Mutter und meine Schwester rittlings auf die Brüstung setzten, wie auf ein Pferd“, sagte Hasena. „Ich konnte beide Frauen schreien hören, bis sie in den Bauch geschossen wurden. Sie fielen ins Wasser; die Männer lachten, während sie zusahen. Das Wasser färbte sich rot.“

Dies war der Anfang von Hasenas Leidensweg. Sie versteckte sich nachts mit den Kindern in einem leeren Haus und kehrte in der Morgendämmerung nach Hause zurück, um sich um ihren kranken Vater zu kümmern, der nicht mehr gehen konnte. „Mein Vater sagte: ,Geh. Nimm die Mädchen und lauf. Du kannst mich nicht mitnehmen. Ich werde hier warten, bis sie mich holen. Geh.‘ Ich sah erst ihn an und dann meine Mädchen. Ich machte ihm etwas zu essen, und er sagte: ,Komm her, meine Tochter, damit ich dich noch einmal küssen kann.‘ Er küßte mich und die Mädchen, und wir ließen ihn allein zurück.“

Als die Serben Hasena schließlich fingen, kam sie mit ihren Töchtern in ein Haus voller anderer muslimischer Frauen, wo sie zwei Monate gefangengehalten wurden. Viele Frauen aus Višegrad sagten, sie hätten in diesem Sommer „in einem Haus mit anderen Frauen zusammengelebt“. Das ist alles. Manche Einzelheiten könnten, würden sie ausgesprochen, jeden Versuch eines neuen Lebens zunichte machen.

Am 13. September wurde Hasena fortgebracht. Und jetzt taucht in ihrem Bericht ein neuer Name in der grausigen Liste serbischer Konzentrationslager in Bosnien auf: Uzamnica. Hasena und ihre Töchter wurden drei Jahre lang in einer überfüllten Baracke dieser ehemaligen Kaserne gefangengehalten. „Morgens sah ich ihnen beim Schlafen zu, während draußen die Sonne schien, und weinte.“

Uzamnica war ein Zwangsarbeitslager, wo Hasena und ihre Mädchen draußen arbeiten mußten, selbst die sechsjährige Nermina. Es war schwere Arbeit, von morgens bis abends Tomaten pflanzen oder Vieh füttern. Die Serben boten ihren muslimischen Gefangenen nur verbotenes Schweinefleisch zum Essen.

Lukić kam regelmäßig nach Uzamnica. „Er kam jeden Tag, wild, und schrie, ich bring' euch dreckige Zigeuner um“ – er schlug und mißhandelte die Gefangenen völlig willkürlich. Schmerzensschreie, berichtet Hasena, kamen vor allem aus den Baracken der Männer. Jede Woche verließen Kolonnen mit männlichen Gefangenen das Lager in Richtung Serbien; sie wurden nie wieder gesehen. Im letzten Oktober wurden Hasena und ihre Mädchen ausgetauscht und schafften es nach Sarajevo.

Višegrad ist jetzt eine traurige, von Mißtrauen erfüllte Stadt. Es ist scheußlich, vom „Sofa“ und seiner Brüstung aus auf die starke Strömung zu schauen und sich zu fragen, ob dies das letzte war, was diese erschreckten und gefolterten Menschen sahen, wenn sie hinabstürzten.

Möchte Hasena die Brücke irgendwann einmal wiedersehen? Sie schauerte. „Nie. Nicht wenn ich tausend Jahre alt werde. Ich würde diese Brücke am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen, aber ich sehe sie vor mir, als wäre ich jetzt da. Diese Brücke wird mich noch wahnsinnig machen.“

Die Suche nach Milan Lukić ist ein gefährliches Unternehmen. Gerüchteweise drang zu uns durch, daß er jetzt als reicher Mann wieder in Obranovac in Serbien lebt. Es ist eine nüchterne, gesichtslose Stadt, und die Viski Bar mit ihrer Glasfront, die er geführt haben soll, ist ein ungemütlicher Ort mit schlechter Bedienung und lauter montenegrinischer Volksmusik. Auf die Frage nach dem Aufenthaltsort von Herrn Lukić begegnen uns steinerne, drohende Blicke. Weitere Nachfragen empfehlen sich nicht.

Aber vor kurzem kam die ominöse Nachricht, man habe ihn gesehen. Ein muslimischer Soldat aus Žepa, der 1995 den Fall der Enklave miterlebte, berichtete, er habe Lukić gesehen, der zusammen mit serbischen Soldaten die Kolonnen der muslimischen Kämpfer bei ihrer Kapitulation abgeschritten sei. Er habe nach Leuten gesucht, die er kannte, und geschrien: „Alle aus Višegrad vortreten! Alle aus Višegrad!“ Lukićs Arbeit auf der Brücke über die Drina scheint noch immer nicht beendet zu sein.

Übersetzung aus dem Englischen:

Meino Büning

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