Das Portrait
: Sturer Staatschef

■ Lee Teng Hui

Taiwans Präsident Lee Teng Hui Foto: Reuter

In der Stadtbibliothek von Taipeh vertiefte sich am Samstag ein Student in einen Aufsatz, mit dem Titel „Läuft es unserer Ethik zuwider, wenn Politiker Charisma haben?“ Vor so grundsätzliche Fragen stellt Taiwans Präsident Lee Teng Hui seine Landsleute, wenn er sie kommenden Sonntag um die Wiederwahl bittet.

Zwar zweifelt derzeit niemand am Sieg des 73jährigen bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen. Doch betrachten die meisten TaiwanesInnen ihren Präsidenten mit Vorbehalten: Übertriebener Ehrgeiz, ungebändigtes Machtstreben und Kooperationsunfähigkeit werden Lee nicht nur von der Opposition vorgeworfen. „Das größte Problem liegt in der Persönlichkeit des Präsidenten“, berichtet ein Berater. „Er ist stur, unbelehrbar und hört nicht zu.“

Solche Beobachtungen haben politisches Gewicht, weil Lee von der Pekinger Propaganda seit Monaten zum Erzfeind abgestempelt wird. Seine erste Aufgabe als Präsident aber wäre es, die Beziehungen zu Peking zu normalisieren. Ist Lee damit der falsche Mann zur falschen Zeit?

Immerhin verdanken die TaiwanesInnen der Durchsetzungskraft ihres Präsidenten, daß sie ihn in dieser Woche überhaupt wählen dürfen. Ihm persönlich wird die Entscheidung zugeschrieben, direkte Präsidentschaftswahlen einzuführen, die vor allem seiner eigenen Partei, der seit 1949 regierienden Kuomintang, mißfiel. Noch 1988, als Lee sein Amt übernahm, galt der erste gebürtige Taiwanese an der Spitze des Landes als Außenseiter in der von Festlandchinesen dominierten Partei. Heute ist sein Ruf als Reformer unumstritten. Weniger gegen ihn persönlich richtet sich die Kritik der Unabhängigkeitsbewegung: „Wir dürfen bei Lee nicht vergessen, daß die Kuomintang sein Rückgrat bildet“, sagt ein Oppositionspolitiker.

Vor allem die Korruption in den eigenen Reihen wird dem Präsidenten zur Last gelegt. Noch immer befinden sich die drei großen taiwanesischen Fernsehsender und das staatliche Radio de facto unter Kontrolle der Regierung. Lee nutzte ihre Unterstützung im Wahlkampf hemmungslos aus. Mit Lees Schlagfertigkeit wird die Welt also weiter leben müssen: Sein „privater“ USA- Besuch im Juni 1995 gilt noch heute als eigentlicher Auslöser der Taiwankrise. Da ihn die TaiwanesInnen deshalb nicht abwählen wollen, sind Wiederholungstaten nicht ausgeschlossen. Georg Blume