Eine Insel probt den Aufstand

Zehntausende TaiwanerInnen demonstrieren für die Unabhängigkeit des Eilandes von der Volksrepublik China. Sie wollen sich nicht von den Regierungen in Taipeh und Peking überstimmen lassen  ■ Aus Taipeh Georg Blume

Drei Gründe kennt die chinesische Regierung für den Einsatz von Gewalt auf Taiwan: eine ausländische Intervention, eine taiwanische Unabhängigkeitserklärung und „ziviles Chaos“.

Die dritte Bedingung war am Wochenende erstmals erfüllt. Zwischen 20.000 und 50.000 TaiwanerInnen – die Angaben variierten – versammelten sich am Samstag abend vor dem Rathaus der taiwanischen Hauptstadt zur größten Unabhängigkeitsdemonstration in der Geschichte der Insel. Vor dem Hintergrund der Pekinger Kriegsdrohungen, die ab heute erneut von Militärübungen in der Nähe Taiwans unterstützt werden sollen, richteten die Demonstranten in Taipeh ihren Unmut direkt gegen die chinesischen Machthaber. „Jiang Zemin – gesucht wegen Terrorismus!“ lautete eine Plakatparole, die sich gegen den chinesischen Staatspräsidenten wandte. Seit der blutigen Niederschlagung der Studentendemonstrationen auf dem Pekinger Tiananmen- Platz 1989 hatte die Entrüstung über die chinesische Politik nicht mehr ähnlich viele Menschen mobilisiert wie jetzt in Taipeh.

„Wir müssen zeigen, was ,People's Power‘ heißt“

Trotz der weiterhin gespannten militärischen Lage herrschte in den Straßen von Taipeh eine ausgelassene Atmosphäre. „Wir müssen Peking zeigen, was ,People's Power‘ heißt“, sagte die 35jährige Lehrerin Linda Koo in Anspielung auf die friedliche Revolution auf den benachbarten Philippinen. Viele BürgerInnen, die Manöver und Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten bisher nur am Bildschirm verfolgt hatten, wehrten sich spontan gegen die scheinbare Ohnmacht ihres kleinen Landes. Quer durch die Innenstadt von Taipeh bildeten sich Autokolonnen. Wer nicht zur Rathaus-Demonstration ging, steuerte auf das die Stadt beherrschende Denkmal für Chiang Kai-shek zu, dessen Ende der 40er Jahre errichtete Diktatur sich in den letzten Jahren zu Demokratie entwickelt hat. Am Samstag fand vor dem Denkmal des „Generalissimus“ ein gigantisches Rockkonzert des staatlichen Radiosenders BCC statt.

Nicht nur die Krise mit China, auch das Interesse an den ersten freien Präsidentschaftswahlen am kommenden Samstag brachte die Menschen auf die Straße. Als habe die junge taiwanische Demokratie bereits ihre festen öffentlichen Rituale entwickelt, drängten sich die jugendlichen Anhänger der regierenden Kuomintang-Partei zum BCC-Konzert, wo am späten Abend noch der Auftritt des um seine Wiederwahl kämpfenden Präsidenten Lee Teng Hui erwartet wurde. Nichts sollte dabei mehr an die diktatorischen Traditionen des von Lee fortgeführten Chiang- Regimes erinnern.

„Die ältere Generation kommt hierher, um sich vor dem Denkmal des Generals zu verbeugen. Wir Jungen sind heute zum Tanzen da“, meinte die 29jährige Büroangestellte Chen Mei Ling. Statt mit den radikalen Unabhängigkeitsbefürwortern zu demonstrieren, hielt es Chen lieber mit dem politischen Status quo und Präsident Lee, der sich zwar theoretisch zum Ziel einer Wiedervereinigung mit China bekennt, aber praktisch für eine größere Souveränität Taiwans eintritt. „Den jungen Leuten war die Politik bisher gleichgültig. Wir wissen nur nicht mehr, ob unser Land so stark ist, daß wir uns diese Sorglosigkeit erlauben können, oder ob wir im Grunde nur naiv sind“, sagte Chen. Wie wohl die meisten TaiwanerInnen, denen Lee seinen vorausgesagten Wahlsieg verdanken wird, ist die junge Frau innerlich gespalten: Ihr Herz schlägt längst für die Unabhängigkeit, Gewohnheit und Vernunft aber gebieten immer noch Vorsicht.

Vor dem Taipeher Rathaus am anderen Ende der Innenstadt betrachteten die Demonstranten ebenjene Vorsicht als lebensgefährlich. „Nur wenn wir unabhängig sind und als solches von der Welt anerkannt werden, können wir uns verteidigen und mit der Unterstützung anderer Länder rechnen“, sagte Hsu Chin Wen (50), Angestellter eines Handelsunternehmens. Die Volksfeststimmung hatte hier etwas Aufputschendes. „Es ist die Feigheit unserer Regierung, was sie an ihren Wiedervereinigungsformeln festhalten läßt“, meinte Oliver Kao (49), Chef einer Kugelschreiberfabrik. „Wir müssen endlich ganz deutlich sagen, daß wir zur Verteidigung unserer Freiheit bereitstehen.“

Wie stark die Unabhängigkeitsbewegung in Taiwan bereits ist, ließ sich nicht nur am Menschenauflauf ablesen: Das Rathaus von Taipeh gehörte am Samstag ihr. Bürgermeister Chen Shui Bian, der als erfolgreicher Oppositionskandidat vor einem Jahr hier eingezogen war, ließ die Tore seines modernen Prachtbaus trotz Dienstschlusses für die DemonstrantInnen öffnen. Wenig später sprach der populäre Bürgermeister auf einer Wahlkampfkundgebung seiner Demokratischen Fortschrittspartei (DFP) in einer Grundschule von Taipeh: „Der Raketen-Zwischenfall ist kein innenpolitisches, sondern ein internationales Ereignis. Jetzt ist die Zeit, der Welt unsere Unabhängigkeit zu erklären“, sagte Chen.

Generäle zahlen in Taiwan bis heute keine Steuern

Nicht einmal führende Kuomintang-Politiker bestreiten heute noch, daß die DFP – wenn schon nicht diesmal – bei kommenden Wahlen eine gute Chance besitzt, die Regierungsmehrheit zu erobern. Bürgermeister Chen hat in Taipeh erst vor wenigen Wochen eine monatliche Altersrente von umgerechnet 300 Mark für jeden Antragsteller eingeführt und damit landesweit den ersten Schritt zu einer Sozialversicherung unternommen. Darüber hinaus kann sich die DFP auf Kosten der Altlasten des Kuomintang-Regimes profilieren: Generäle zahlen in Taiwan bis heute keine Steuern, Regierungspolitiker haben Beziehungen zur Drogenmafia gepflegt, nur Parteimitglieder dürfen in die Armee. „Wir wollen in einer Gesellschaft der Würde leben. Rettet Taiwan!“ feuerte der jung-dynamische Rechtsanwalt und Vizepräsidentschaftskandidat der DFP, Frank Hsieh, die in die grünen Parteifarben getauchte Menge an. Im Publikum sagte Lawrence Shue, der Generalsekretär des Rotary Clubs von Taipeh: „Vor solchen Leuten wie Hsieh haben die Herren in Peking Angst.“

Trifft letzteres zu, dann hat der Konflikt um Taiwan erst begonnen. Das Coming-out der Bürger von Taipeh unter chinesischen Kriegsdrohungen hat gezeigt, daß die Regierungen in dem Konflikt nicht allein entscheiden werden.

Siehe Portrait Seite 11