Von Kakerlaken & Kriminellen

■ Heute in Bremen: Russland-Expertin Lois Fisher-Ruge liest aus ihrem neuen Buch über den Alltag in Moskau

„Freiheit auf russisch“, so der Titel des neuen Buches von Lois Fisher-Ruge, das ist keine einfache Übersetzungsaufgabe. Im Gegenteil. Bedeutete im 19. Jahrhundert Freiheit die Abschaffung der Leibeigenschaft, ist die Freiheit, die mit Glasnost einzog, im Alltag vieler Russen noch eine sehr gewöhnungsbedürftige Angelegenheit. Unter anderem liegt das daran, daß unter Jugendlichen der aus der russischen Folklore stammende Freiheitsbegriff „Wolya“ als Freiheit ohne Schranken und ohne Verantwortung in Vandalismus und Erpressung übersetzt wird. Lois Fisher-Ruge, die seit vielen Jahren in Moskau lebt, schreibt über die Auswirkungen dieser Begriffsverwirrung im Alltag.

Den Einkauf, Autoraperaturen und den Ärger mit den Handwerkern ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, das ist die Strategie von Lois Fisher-Ruge, die sie schon in den Bänden „Alltag in Moskau“, „Natascha heißt Hoffnung“ und „Überleben in Rußland“ verfolgt hat.

Voraussetzung, um die Unterschiede überhaupt wahrzunehmen, ist die Vergleichsmöglichkeit mit der Zeit vor Glasnost. Da ist die Autorin vielen neuen Russland-Entdeckern gegenüber im Vorteil, denn sie lebte schon in den 70ern in Moskau. Manche Freunde kennt sie seit damals, hat ihr Leben begleitet und wahrgenommen, wie sich die Lebensgewohnheiten verändert haben. Früher zum Beispiel habe sie ihren Bekannten immer Geschenke aus dem Ausland mitgebracht, Dinge, die es in Russland unter keine Umständen zu kaufen gab. Heute besteht dazu kein Anlaß mehr, weil das Warenangebot sich völlig verändert hat. Jetzt ist alles zu haben, zum Thema wird jetzt der Preis.

Doch Fisher-Ruge lernt nicht nur von den FreundInnen, sie setzt sich auch selbst neuen Erfahrungen aus. Der Auszug aus dem Ausländerghetto, in dem sie all die Jahre lang zwangsweise wohnen mußte, öffnete ihr die Augen. Der neue Wohnungsmarkt ist eh das Thema in Moskau. In der neuen Wohnung lebt die Autorin nun nur unter Russen, leidet mit ihnen am ständig abgestellten Wasser, der kaputten Heizung und dem erbärmlichen Gestank im Treppenhaus. Aber sie lernt auch, daß es 1994 plötzlich einfach ist, die Einrichtungsgegenstände für eine Wohnung zu erwerben. Man geht in einen Laden, vergleicht die Preise, und alles wird noch am selben Tag geliefert, denn mit dem neuen Markt existiert so etwas wie Service. Undenkbar ein paar Jahre zuvor.

So banal die Themen auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, genau das ist die Qualität der Beobachtungen von Lois Fisher-Ruge. Sie verliert sich nie in tiefschürfende Philosophien, vermeidet Analysen der „Russischen Seele“, sondern schreibt mit Genauigkeit. Für den Leser hat das den großen Vorteil, daß er hier die Chance hat von den Kenntnissen und Erlebnissen der Russlandkennerin zu profitieren, denn „Freiheit auf russisch“, das ist eine Reise im Kopf.

Susanne Raubold

Heute um 20 Uhr in der Stadtbibliothek Neustadt