Als Harry Piel kam

■ „On the Waterfront“: Ein neues Buch gibt, reich illustriert, Auskunft über 100 Jahre Kino in Bremerhaven

In Bremerhaven gehen die Uhren etwas anders – nämlich nach. Der 100. Geburtstag des Kinos istbundes- wie weltweit mit Glanz und Gloria über Bühne und Leinwand gebracht, da hat die Seestadt das Jubiläum der Siebten Kunst noch vor sich, weil hier erst im November 1896 die ersten bewegten Bilder zu bewundern waren. Der Anlaß war nötig, damit die notorisch klamme Stadt 12.000 Mark locker machte, um 100 Jahre Kino zu dokumentieren. „On the Waterfront“ heißt das 72-seitige Buch, das sich – reich und ansprechend illustriert – über Glanz und Elend der Bremerhavener Kinoszene ausläßt. Der Titel spielt natürlich nicht nur auf die maritime Lage der Stadt ein, sondern auf einen der erfolgreichsten Filme Elia Kazans. Deutscher Titel: „Die Faust im Nacken“, eine ebenso schonungslose wie poetische Schilderung des New Yorker Hafenmilieus.

Elf Beiträge versammelt der Band, den Hans Happel herausgegeben hat, aus Sentimentalität und „positiver Nostalgie“. Denn viele sind nicht übriggeblieben von den einst zahlreichen Kinos der Stadt. Das liege nicht zuletzt am Publikum, sagt Happel. Der cinephile Kreis in Bremerhaven sei klein. In den 50er Jahren, verrät das Vorwort „wurden in Bremerhaven jährlich mehr als zwei Millionen Besucher gezählt“. Heute werden sämtliche Kinos der Stadt von einem einzigen Betreiber geführt, der Hamburger Union-Kinobetriebsgesellschaft. Mainstream ist angesagt; bloß das Koki (Kommunales Kino) bietet Kino abseits der Norm – in den Räumen des „Atlantis“ wird es „geduldet“ (Happel), mit einem Eigenprogramm von vier Filmen pro Monat!

„On the Waterfront“ beschwört noch einmal goldene Zeiten herauf. Etwa 1932, als Harry Piel – „ein früher James Bond“ – nach Bremerhaven kommt, um sein „Schiff ohne Hafen“ zu produzieren. Nach 63 Jahren empfindet das eine damals 17jährige so: „Er hatte eine Ausstrahlung, braungebrannt, die dunklen Augen, mit weißem Schlapphut, ein weißer Anzug. Mein Herz schlug bis zum Hals. Dann gab er mir die Hand – und diesen Handdruck hab ich nie vergessen. Die Hand hab ich zunächst keinem mehr gegeben.“ „Täglich ausverkauft! Hunderte müssen umkehren!“ meldete denn auch eine Annonce des „Tivoli Theater“ in der „Nordwestzeitung“ zum Filmstart. Am 1. Juli 1995 lief das „Schiff ohne Hafen“ noch einmal in Bremerhaven – am damaligen Drehort, unweit des Morgenstern-Museums, 3.000 BremerhavenerInnen kamen.

Weiterhin nachzulesen: ein Porträt jenes legendären Hermann Freudenberger, der fast ein Vierteljahrhundert Feuilleton-Chef der Nordsee-Zeitung war. Und seinem Urteil ergebene LeserInnen ebenso hatte wie erbitterte Gegner. Ein Leser, der anonym bleiben wollte, ging so weit, nach einer Kritik Freudenbergers „die vier genannten Lichtspielhäuser so lange nicht zu besuchen, bis ich aus Ihrer Feder lese, daß diese Angelegenheit zu Ihrer Zufriedenheit erledigt wird“.

Und dann gab es noch das „Tivoli“. Mit „Konzert- und Tanzsaal, Sanssouci, Künstler-Keller, Astoria-Varieté (in Bau), Helgoland-Bar, Arizona-Bar, Tuskulum (sic), Schnellimbiß“ und einem Kinosaal mit 1261 Plätzen. Bis 1964, als das größte Kino der Stadt seine Pforten schloß.

Lesenswert auch das Porträt Paul Webers. Hans Happel hat seinen Namen unter dem Bauschutt des alten Tivoli gefunden. Weber war 50 Jahre lang Vorführer. Vielleicht hat der Job ihm sogar das Leben gerettet, schreibt Happel. „1941 muß Weber als Soldat nach Rußland ziehen. Das Kino begleitet ihn in den Krieg; ein Filmvorführer wird hinter der Front dringend gebraucht.“ Als der Rückzug anfängt, zeigt er Johannes Heesters' „Karneval der Liebe“. Gestorben wird im richtigen Leben eh genug.

Faktenreich: die Auflistung der Kinos, die es in Bremerhaven gab und gibt. Eröffnung, Platz- und Serviceangebot nebst Quellentexten zum jeweiligen Haus hat der Herausgeber zusammengetragen. Kleiner Schönheitsfehler: Welche Kinos heute noch existieren, läßt sich in der Auflistung erst bei genauem Lesen erkennen. Doch wer sich für Bremerhavens Kinogeschichte interessiert, wird ohnehin Muße genug haben, näher hinzusehen.

Alexander Musik

Hans Happel (Hg.): On the Waterfront – 100 Jahre Kinogeschichte in Bremerhaven. NWD Verlag (1995), 24,80 Mark