Satinstraps in kariöser Kirche

Der Regisseur als bildender Künstler und „Die Dreigroschenoper“ als Gemälde eigener Art: In Bremen inszenierte Andrej Woron erstmals ohne das Berliner Teatr Kreatur und bestückte Brecht/Weill mit seiner Personnage  ■ Von Susanne Raubold

Brecht grotesk, und auch Weill ganz anders: Selten ist der Eingangssong „Und der Haifisch, der hat Zähne ...“ so schmerzlich ausgedünnt und absichtsvoll verzögert vorgetragen worden, wie dies der Moritatensänger in Andrej Worons Bremer Inszenierung der „Dreigroschenoper“ tut. Selbst den kleinsten Trommelwirbel untersagt der polnische Künstler aus Berlin bei dem gespenstischen Auftritt. Doch schon bei der zweiten Strophe setzt Musik ein. Und als dann der knallrote Vorhang beiseite gezogen wird, kommen dahinter die grotesk kostümierten Bettler zum Vorschein, zu einem erstarrten Gruppenbild arrangiert.

Offene Münder, schwarze Augenringe und schlotternde Gewänder – Woron bevölkert Brechts London mit der Personnage, die er mit seinem Teatr Kreatur entwickelt hat, und die man aus den Berliner Inszenierungen „Die Zimtläden“, „Das Armenhaus“ und zuletzt „Prophet Ilja“ kennt. Und kein Gedanke an Werktreue: Mit wunderlichen Kostümen und einem überdimensionalen Bild- und Bühnenraum verwandelt Woron die „Dreigroschenoper“ souverän in ein Gemälde, das seine ganz eigene Handschrift trägt. Für die zentrale Szene, in der der Bettlerkönig Peachum seine Angestellten nach den drei bewährten Grundtypen ausstattet, die den Passanten rühren könnten, hat Woron eigentümliche Bühnenvehikel gebaut, die von den Figuren in ihrem Kampf um Mitleid auf kleinen Rädern um die Wette geschoben werden. Ein blaßrosa Torso aus einer Universitätspathologie birgt jetzt ein Akkordeon, und auf einem Flaschengestell stecken 20 abgeschlagene Puppenköpfe: das ganze Inventar einer ausgemusterten Geisterbahn.

Woron hat gleich die ganze Produktion auf seine Schultern genommen: Schauspiel-Regie, Kostüme und Bühnenbild stammen von ihm. Das Resultat: Ein Gesamtkunstwerk, das hinter dem Regisseur den bildenden Künstler erkennen läßt. Seine Bühnenlandschaft rückt die englische Vorstellung von der Gothic novel in ein Brechtsches Licht.

Mackie Messer und seine Polly heiraten in einer Backsteinkirchenruine, die bei dem Romantiker Caspar David Friedrich ausgeborgt zu sein scheint oder bei Tarkowskis Nostalgia. Ihre hohen Bogenfenster lassen Durchblicke in alle möglichen Bühnenhimmel zu. Die kariöse Kirche bildet den Rahmen für Brechts Stück über die Härten des Kapitalismus, in dem gilt: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Oder anders gesagt: Wer unten ist, bleibt unten. Ganz oben steht, gesanglich und schauspielerisch, die Spelunken-Jenny (Irene Kleinschmidt). Als Polly Peachum schlenkert Gabriela Maria Schmeide im lachsfarbenen Unterkleid die satinbestrapsten Beine vor neogotischen Kirchenfestern.

Noch beeindruckender als die Einzeldarsteller sind die Gruppenszenen, bei denen sich die Schauspieler ganz auf Worons Choreographie einlassen. Ein seltener Glücksfall in einem Staatstheater, der der Tatsache zu verdanken ist, daß der Intendant Klaus Pierwoß (bei der Premiere in der Rolle eines Bettlers!) einen ganzen Jahrgang der Berliner Schauspielschule Ernst Busch in sein Ensemble aufgenommen hat. „So herrschte eine Arbeitsatmosphäre wie im Studium“, sagt Woron über seine erste Inszenierung außerhalb des Teatr Kreatur. „Man liebt das Experiment und die Anarchie. Das waren traumhafte Bedingungen für einen Regisseur wie mich, der sich mit den Strukturen eines Stadttheaters eigentlich schwertut.“

Durch starke Rhythmisierung gelingt es Woron, dem über weite Strecken etwas zu breit angelegten Handlungsverlauf eine neue Dynamik zu verleihen, wenngleich man sich an einigen Stellen noch stärkere Kürzungen gewünscht hätte. Hier wuselt's, da stockt's, und an einem dritten Ort passiert schon was ganz anderes. Während sich unten, im „Hotel zur Flunder“, noch die Damen des horizontalen Gewerbes räkeln, geht anderenorts schon die Handlung weiter. Auch die Tempi ändern sich ständig, wenn auf realistische Dialogführung im Gefängnis plötzlich surrealistische Langsamkeit oder das hysterisch übersteigerte Tempo des Bettlerumzugs folgt.

Damit all das so darstellbar wurde, und damit beim derzeitigen Theatersparkurs die ganze Opulenz überhaupt realisiert werden konnte, half ausgerechnet die Bremer Landesbank mit. Dem Herrn vom Vorstand konnte Brechts „Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ nur ein gönnerhaftes Lächeln entlocken.

„Die Dreigroschenoper“ von Brecht/Weill. Theater am Goetheplatz, Bremen. Regie und Bühne: Andrej Woron. Mit: Burghart Klaußner, Gabriele Möller- Lukasz, Irene Kleinschmidt u. a.