„Unsere Knochen sind unser Kapital“

Professionell abstürzen, Unfälle bauen, aus brennenden Häusern springen: Eigentlich kann Daniela Stein Actionfilme nicht ausstehen, aber sie ist eines der wenigen Stuntgirls in Deutschland  ■ Von Karin Flothmann

Die Hitze raubt ihr den Atem. Das Feuer hat sich durchs Treppenhaus gefressen, der Fluchtweg ist abgeschnitten. Die junge Frau stürzt ans Fenster. Sie streift die Stöckelschuhe ab, klettert auf das Fensterbrett. In schwarzen Strapsen und rotem Mieder verharrt sie einen Moment. Dann springt sie aus dem dritten Stock.

Der Sturz aus rund zwölf Metern Höhe endet in einem Stapel Kartons. Den nimmt die Kamera nicht ins Visier. „Sehr gut!“ brüllt einer vom Team. „Wir haben's im Kasten.“ Die junge Frau in den Strapsen rappelt sich hoch. Ihre Arbeit ist getan.

Seit acht Jahren lebt Daniela Stein davon, daß sie sich vor laufender Kamera aus Fenstern stürzt, daß sie Autounfälle überlebt oder brennend mit dem Motorrad über eine Klippe rast. „Dani F. Stein – Stuntkoordination und Stuntgirl“ steht auf ihrer Visitenkarte. Manchmal, wenn sie sich wieder mal von einer Brücke ins eiskalte Wasser stürzt, kommt der burschikosen Frau der Job als Stuntgirl „völlig absurd“ vor. Und eigentlich kann sie Actionfilme nicht ausstehen, sie liebt Truffaut und träumt davon, eines Tages selbst ein Drehbuch zu schreiben. Dennoch, „das Gefühl, wenn du's geschafft hast, ist schon toll.“

„Ich hab mich immer mit den Jungs gemessen“, erzählt Daniela und grinst. Und wie ein Lausbub wirkt die kräftige Frau mit den langen blonden Haaren noch heute. In dickem Wollpullover, Jeans und Daunenweste wartet sie auf den nächsten Stunt. Auf einem verlassenen Fabrikgelände im Osten Berlins werden neue Folgen einer Vorabendserie gedreht. Ein Motorradcrash ist heute dran. Mit einer jüngeren Kollegin dreht Daniela einige Proberunden auf dem Krad. In einer Ecke des Hofs steht ein ausrangierter Bus mit Sitzbänken und kleinen Tischen. Hierher flüchten sich alle, die auf dem Set gerade nichts zu tun haben. Daniela quetscht sich in eine Bank und steckt sich eine Zigarette an. „Oft warten wir zehn Stunden oder mehr, bis wir endlich dran sind.“

Daß sie einmal Stuntfrau werden würde, war der 29jährigen schon früh klar. „Ich dachte, ich bin mutig, ich mache gern Sport: Da bleibt nur das Stuntgirl.“ In München besuchte die gelernte Sportlehrerin eine private Stuntschule, übte täglich fechten, klettern, stürzen, brennen. Nach einem halben Jahr wurde ihr feierlich eine Urkunde überreicht. „Dilettantisch“ nennt Daniela das heute. Denn: „Stunts lernst du nur von den Alten, wie in einer Zirkusfamilie.“ Vier Jahre arbeitete sie deshalb anschließend in einem größeren Stuntteam. 1992 machte sie sich dann mit zwei Kollegen in Berlin selbständig: Die nächsten zehn Jahre wird sie beim Stunt bleiben, aber „mit 40 ist bei mir spätestens Schluß“. Von älteren Kollegen weiß sie, „je länger du es machst, desto größer wird die Angst“.

Tanja de Wendt sieht das mit den Stuntschulen ganz anders: Die 28jährige leitet selbst eine. Jeden Samstag treffen sich rund 40 ihrer Schüler und Schülerinnen in einer Düsseldorfer Sporthalle. Von elf bis drei Uhr nachmittags fallen sie dann von Sprossenwänden, schlagen Purzelbäume, springen Trampolin und hechten über Matten. Tanja ist zierlich, 1,60 Meter groß und unterrichtet in Gymnastikhose und Sweatshirt. Ihre Spezialität sind Stürze.

„Wir beginnen jetzt mit den Fallübungen!“ Acht Frauen und drei Männer stürzen sich abwechselnd von Sprosse Nummer sechs auf eine Matte. Tanja macht es vor: Nach vorn fallen lassen, den Körper in der Luft drehen, auf dem Rücken landen. „Grundregel Nummer eins“, ruft Tanja ihren Zöglingen zu, „Augen auf! Sonst seht ihr nicht, wo ihr landet.“ Die Angst vorm Sprung gehört zum Stuntfrauendasein dazu, davon ist Tanja überzeugt: „Die schützt ja auch.“

Steht ein Sturz aus großer Höhe an, hat sie eigene Methoden, sich darauf vorzubereiten. „Ich geh' in ein Hochhaus und gucke lange runter.“ So bekommt sie ein Gefühl für die Höhe – und für mögliche Risiken. „Unsere Knochen sind immerhin unser Kapital.“ Und für deren Einsatz werden Summen von 800 Mark an aufwärts gezahlt.

Seit knapp drei Jahren arbeitet Tanja bei einem Düsseldorfer Stuntteam mit, organisiert den Schulbetrieb, koordiniert den Bürokram und springt ab und zu als Stuntfrau ein. „Dieser Job ist mein ein und alles“, sagt sie. Früher war Tanja stets auf der Suche nach mehr. Die Lehre als Kauffrau fand sie langweilig, Bauzeichnerei auch. In keinem Beruf hielt sie es lange aus, zwischendurch kellnerte sie. Irgendwann bediente Tanja in ihrer Kneipe eine Stuntcrew. Der fehlte ein Fahrer. Tanja kutschierte die Truppe zum Drehort, schaute bei einem Autoüberschlag zu und wußte: „Das isses!“ Und diesmal blieb sie dabei.

Zu Tanjas Stuntrepertoire gehören allerdings nicht nur Actionszenen oder der Sturz vom Fernsehturm. Sie mußte auch schon mal Inge Meysel doubeln. Der Job: Bei Rot über die Straße gehen. Ein Auto bremste haarscharf vor ihr ab. Und Inge Meysel alais Tanja de Wendt mußte entsetzt zurückschrecken. Würde eine Meysel in solch einer Szene stolpern und sich verletzen, käme es die Produktionsfirma teuer zu stehen. Tanjas Einsatz kommt billiger.

In der Turnhalle klettert inzwischen ein großer, schlacksiger Kerl an der Sprossenwand empor. Tanja erklärt: „Ihr dürft nicht abspringen. Aus 20 Meter Höhe würdet ihr viel zu viel Schwung kriegen.“ Der Lange springt schwungvoll ab und stürzt kopfüber. Erst kurz vor dem Aufprall zieht er den Kopf ein. Krachend schlägt er mit dem Bauch auf der Matte auf. „Die Profilierungssucht von den Männern ist bei uns schon recht groß“, kommentiert Trainerin Tanja leise. Einer Kunstturnerin unter den SchülerInnen hingegen kommt ihre Körperbeherrschung zugute, sie spannt alle Muskeln an und läßt sich geschickt fallen. 250 Mark pro Monat müssen die angehenden Stuntfrauen und -männer zahlen. Wer noch etwas drauflegt, kann außerdem Schauspielunterricht nehmen. Ob sie später tatsächlich im Filmgewerbe landen, ist fraglich. Größere Stuntteams arbeiten nur in München, Berlin, Hamburg, Düsseldorf und Köln. Deutschland ist nicht Hollywood.

In Amerikas Filmmetropole gründeten Stuntfrauen unlängst eine eigene Gewerkschaft. In Deutschland arbeiten nur eine Handvoll Frauen in diesem Gewerbe. „In deutschen Filmen sieht es mau für uns aus“, meint auch Stuntgirl Tanja. „Da macht die Frau die klugen Sprüche, und der Mann ist für die Action zuständig.“ Durch die Privatsender hat sich die Auftragslage zwar verbessert. Doch immer noch reagieren Regisseure konsterniert, wenn Tanja sich bewirbt. In der Regel doubeln Männer die Frauen in Actionszenen. „Als Frau muß ich dann immer brüllen: He, ich bin auch noch da!“

Im Privatleben ist es umgekehrt. Da neigen die Männer dazu, in Tanja nur die Stuntfrau zu sehen – und reagieren auf ihre Weise, zum Beispiel beim Autofahren: „Einer drückte plötzlich wie ein Irrer auf die Tube und raste mit mir durch ganz Düsseldorf. Solche Idioten können mir gestohlen bleiben.“ Viele Männer, meint Tanja, „haben Angst vor starken Frauen, aber ich bin doch nicht nur die Stuntfrau. Ich will mich auch mal anlehnen können.“ Ihre bisherigen Lover schienen das nicht zu verstehen. Doch eines Tages, da ist Tanja sicher, wird ihr im Supermarkt ein Typ mit dem Einkaufswagen über den Fuß fahren. „Und der ist es dann.“

Daniela Stein dagegen möchte ihre Muskeln am liebsten wieder loswerden. „Für den Job brauchst du keine dicken Muskelpakete“, ist sie überzeugt. Da kommt es auf Körperbeherrschung und -koordination an.

Auf dem Berliner Fabrikhof holt sich Daniela Stein nach mehreren Stunden Warten eine vierte Tasse Tee. Ihr Freund und Stuntkollege Leo harrt geduldig mit aus. Endlich kommt die Maske. Daniela und ihre Kollegin ziehen sich im Garderobencontainer um. Sie brauchen sich nicht zu schminken, da sie Motorradhelme aufsetzen. Allein auf die Klamotten kommt es an. Das junge Liebespaar der Serie trägt Jeans und Lederjacken. Daniela quetscht sich in eine hellblaue Levis. Mit den Knie- und Hüftschonern sitzt die Hose ganz schön eng, aber eine andere helle ist nicht aufzutreiben. Daniela spielt den Mann. In ihrem Stuntteam geht es nach Körpergröße – ist ein Schauspieler um die 1,70 Meter groß, dann doubelt Daniela ihn, ist er größer, sind ihre Kollegen dran.

Auf dem Hof wird unterdessen die Kamera neben einer niedrigen Mauer aufgestellt. Regisseur, Scriptgirl und Klappenmann gehen in Position. Der Wartebus wird in die gegenüberliegende Ecke bugsiert. Auch der Container der Maske muß vom Hof verschwinden. Daniela und ihre Kollegin steigen auf das Motorrad und fahren zur Toreinfahrt. In der Mitte des Hofes wartet Danielas Kollege Volkhard am Steuer eines Autos. Es kann losgehen. „Kamera läuft! Ton läuft, und los!“

Auto und Motorrad starten gleichzeitig, rasen aufeinander zu. Kurz vor dem Zusammenstoß reißt Daniela den Lenker herum. Das Motorrad schlingert, kippt zur Seite, rutscht die letzten Meter über den Asphalt. Die beiden Stuntfrauen stürzen mit – und rollen sich blitzschnell ab. Jede Bewegung tausendmal geübt. Der Körper weiß instinktiv, wie er fallen muß, um sich nicht zu verletzen. Nur die enge Jeans von Daniela hat gelitten. Als sie sich wieder hochrappelt, entdeckt sie einen Riß über dem Knie. „Sehr gut!“ schallt es von der Kamera herüber. „Wir haben's!“