"Das richtige Leben fand in der Küche statt"

■ Im Gespräch: Lois Fisher-Ruge, Rußland-Expertin über Chaos, Normalität und die Bedeutung des Pelzmantels für den russischen Alltag

Lois Fisher-Ruge lebte erstmals 1977 bis 81 mit ihrem damaligen Mann, dem Korrespondenten Gerd Ruge in Moskau. Seitdem kam sie immer wieder nach Rußland und hat über den Alltag dort geschrieben. In Bremen liest sie aus ihrem neuen Buch „Freiheit auf russisch“

taz: Ihre Bücher waren von Anfang an Bestseller. Wie kamen Sie dazu, sich ausschließlich mit dem Alltag zu beschäftigen?

Lois Fisher-Ruge: Ich war ja nicht ursprünglich Journalistin. In Amerika hatte ich zwar politische Wissenschaft studiert, aber das habe ich bewußt nicht benutzt, denn in der Sowjetunion wäre ich damit sofort zur persona non grata geworden. Und hätte auch keine Freunde gehabt. So habe ich mich mit dem Leben im Alltag beschäftigt.

In Ihren Büchern kommen Freunde vor, die zum Teil über die Jahre immer wieder auftauchen.

Ja, das ist in Rußland etwas ganz normales. Ich bin deshalb auch immer wieder gekommen. Die Freundschaften sind sehr viel intensiver. Small talk wird zum Beispiel überhaupt nicht akzeptiert. Man muß sich beklagen, Sorgen haben, sonst gibt es keine Freundschaft. Freundschaft hat hier eine andere Bedeutung, und das ist gerade wegen des Systems so; sie hat Ventil-Charakter für vieles. Jeder hatte zwei Seiten, eine fürs Büro und eine zweite für die Küche, wo das richtige Leben stattfand. In sofern ist das, was jetzt thematisiert wird, der Lug und Betrug, nichts Neues. Das war immer so, die Leute haben zwei Seiten.

Sie selbst haben eine zwei Jahre dauernde gerichtliche Auseinandersetzung mit alten Freunden hinter sich. Das deckt sich nicht mit der alten Vorstellung von großer Freundschaft.

Ja, mit dem Ehepaar Pankow gab es eine 14jährige Freundschaft. Was jetzt geschehen ist, ist für mich ein ganz schmerzliches Erlebnis. Viele andere Freunde haben den Prozeß beobachtet und gesagt, es ist eine Schande, was da geschehen ist. Ich hatte eine humanitäre Hilfsaktion ins Leben gerufen. Da hatte dieser Freund Pankow die Idee, eine Schneiderei zu gründen. Hilfe zur Selbsthilfe sozusagen, das schien mir eine gute Idee. Wir haben dafür Nähmaschinen angeschafft, wie sich später rausstellte sehr teure Pfaff-Nähmaschinen, und er hat einfach einen kommerziellen Betrieb gegründet und sich abgesetzt. Es ging darum diese Maschinen wiederzu bekommen. Außerdem hat das Ehepaar noch von meinem Geld eine Datscha gekauft. Die ist verloren, ich habe sie nicht wiederbekommen und jetzt haben sie wohl Millionen mit dem Verkauf verdient.

Nun sind Sie kein naiver Tourist, der mal auf eine Betrügerei hereinfällt. Ist das eher ein Zeichen für die moralische Irritation, die jetzt herrscht?

Ja, das greift um sich. Ich habe nicht gemerkt, daß ich diese Freunde mit dem Geld in Versuchung geführt habe.

Hier taucht immer wieder der Begriff von der Mafia auf, wer ist das im neuen Rußland?

Das ist so anders, man versteht es in Deutschland gar nicht. Es ist eine andere Art von Mafia. Weil der Staat so schwach ist und das Rechtssystem nicht funktioniert. Man muß die Grundregeln kennen. Ohne Bestechung läuft gar nichts. Wer das nicht akzeptieren mag, der kann gleich nach Hause gehen. Aber das ist schon sehr sehr lang so in Rußland.

In ihrem neuen Buch „Freiheit auf russisch“ schreiben sie auch, daß der Begriff der Freiheit einem Übersetzungsproblem unterliegt.

Ja, es gibt diese Idee von „Wolya“. Das bedeutet, es gibt keine Grenze, keine Verantwortung. Ich kann machen, was ich will, jemanden umbringen. Viele Jugendliche benehmen sich jetzt so, als lebten sie in dem Märchen. Es wird so gehandelt, weil keiner sie hindert. Ein berühmter Rechtsanwalt, Juri Schmidt aus Petersburg, sagt heute: das Gesetz ist oft so schwach. Es gibt Klienten, denen rat ich, kauf dir dein Recht, auf normalen Wege ist es zur Zeit nicht zu erreichen.

Ist das jetzt normal?

Ja, „normalny“, ist auch eine zentrale Formel, für das was man akzeptieren muß, obwohl es eigentlich absurd ist. Letztens hab ich etwas gesehen, das hat mich wirklich verblüfft. An einem öffenlichen Gebäude sehe ich eine lange Leiter an einem Fenster stehen. Obendrauf klettert eine alte Babuschka gerade ins Gebäude. Ich frage, was das soll. Man sagt mir, alles normalny, der Haupteingang ist geschlossen wegen Renovierung, aber heute wird die Rente ausgezahlt. Wenn die Babuschka ihr Geld heute will, dann muß sie durchs Fenster.

Werden Sie manchmal von Leuten, die neu nach Rußland kommen, um Rat gefragt?

Ja, ich hab mir auch schon mal vorgenommen, eine Bibel, ein kleines Handbuch darüber zu schreiben, was hier normal ist.

Was gehört da rein, außer der Mafia und dem anderen Freiheitsbegriff?

Zum Beispiel, daß man danach eingeschätzt wird, wie man sich anzieht. Das ist in Rußland ganz, ganz wichtig. Jetzt kleiden sich alle, die es sich leisten können, sehr auffällig. Die neuen Reichen gehen mit Brillianten und Pelzmänteln, die so lang sind, daß sie die Straße fegen, zum Einkaufen.

Fragen: Susanne Raubold