■ Schlagloch
: Die deutsche Krankheit Von Götz Aly

„Jeder Vulkan-Betrieb muß jetzt, so gut er kann, seinen Fortgang organisieren.“

Henning Scherf, Bürgermeister von Bremen

Wenn man den Meinungsforschungsinstituten Glauben schenken darf, dann haben die Bundesdeutschen den Glauben an Blüm zumindest verloren. Alle halten ihn für die personifizierte Lüge. Die Prognosen der Politiker gelten den Leuten als Hirngespinste, die Dementis als Bestätigung. Wäre da nicht das Bündnis für Arbeit, das als Weg zum rettenden Ufer erscheint und etwas nie Dagewesenes sein soll.

Neu ist auch daran nichts. Im Gegenteil: Ausgerechnet der Bremer Vulkan steht exemplarisch für die längst erprobte, höchste Form eines solchen Bündnisses. Seit bald zwanzig Jahren hängt die Werft am öffentlichen Tropf. Die regierende Bremer SPD, die IG Metall und die Unternehmensführung sorgten für Kredite; mit Hilfe von Staatsbürgschaften wurden die Banken von jedem Risiko und damit vom Zwang zur betriebswirtschaftlichen Kontrolle entbunden. Erich Honecker bezeichnete das als „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Im Klartext: Fehlende Produktivität, Staatsknete, Arbeit und Ruhe – und nach uns die Sintflut.

Während die DDR-Oberen zu gelegentlichen Kampfdemonstrationen aufriefen und Winkelemente an die werktätigen Massen verteilten, schickten die Bremer IG-Metall-Führer ihre Mannen ebenfalls von Zeit zu Zeit auf die Straße, staffierten sie mit vorgestanzten Transparenten aus und steckten sie in diese kleidsamen, garantiert kampfechten Plastiküberzüge. Die Rituale legitimierten den ökonomischen Stillstand hier wie dort, und nach der Wende wuchs konsequent zusammen, was längst zusammengehörte. Schnell gelang es dem Vulkan-Management, einen betriebswirtschaftlich gesunden Konkurrenten, den norwegischen Kvaerner-Konzern, auszustechen und den Löwenanteil ostdeutscher Werften zu schlucken – betriebswirtschaftlich unter dem Vorwand synergetischer Effekte, also nach der trügerischen Logik des Kombinats, und politisch unter der national-sozialen Parole „Deutsche Werften müssen deutsch bleiben“.

Im Ergebnis zeichnet sich Subventionsbetrug ab. Aber wohin versickerte jene Dreiviertelmilliarde staatlicher Beihilfen zur Modernisierung der Anlagen in Wismar, Rostock und Stralsund, die in die Kassen der Konzernmutter und somit in den Westen verschoben wurden? Sind profitgierige Kapitalisten damit durchgegangen? Wurden davon Villen im Tessin gebaut? Nein, das Geld landete auf den Lohnkonten der Arbeiter von Bremen und Bremerhaven. Die Volksgemeinschaft der Arbeitsplatzinhaber und Sozialversicherten beklaute sich intern.

Die SPD-Führer reagieren instinktsicher, besinnen sich auf ihre seit 1914 periodisch antrainierten chauvinistischen Reflexe und lenken ab: Wo sie von ihrem eigenen Versagen zu reden hätten, führen sie ihre Wahlkämpfe in zunehmend aggressiver Weise gegen sogenannte Billigarbeiter auf deutschen Baustellen, gegen rußlanddeutsche Zuwanderer, gegen die Europäische Union. Die Partei spielt mit dem nationalistischen Ressentiment.

„Menschen ohne Arbeit kosten Geld, Menschen in Arbeit bringen Geld“, dachte man früher. Im deutschen Bergbau, in der Werft- und Stahlindustrie, im Reich der Dienstwagen und Staatsaufträge hingegen kosten Arbeiter vielfach mehr, als sie erwirtschaften. Aufgebaut und staatlich gefördert werden Potemkinsche Dörfer, hochsubventionierte arbeitstherapeutische Maßnahmen – galoppierende Symptome der deutschen Krankheit.

Die Große Koalition, von der alle als möglichem Resultat der anstehenden Wahlen spekulieren, sie existiert längst. Die einen stützen Siemens, als wollten sie im nachhinein noch den verrücktesten Stamokap-Theorien recht geben, die anderen behaupten allen Ernstes, man müsse die Ruhrkohle deshalb auf das Fünffache des Weltmarktpreises subventionieren, damit sich deutsche Bergbautechnologie exportieren lasse (Clement). Oder sie schanzen der Meier-Werft in Papenburg („Estonia“) entgegen den Richtlinien der Europäischen Union Landeszuschüsse in Millionenhöhe zu (Schröder).

Dumm die Unternehmer, die sich solchen Bedingungen des Standorts Deutschlands nicht anpassen: „Steuergelder oder Arbeitsplatzzerstörung!“ lautet die aus der Logik des Klientelismus geborene Parole.

Die Herren fürchten angeblich die Beteiligung der Grünen an der ein oder anderen Landesregierung, geschweige denn in Bonn. Sie drohen, wie jetzt in Rheinland- Pfalz, mit „Auswandern“. Dabei sind diese Unternehmer nicht einmal in der Lage, den von der grünen Anhängerschaft initiierten Fahrradboom in Profite zu verwandeln. Gangschaltungen, Tretlager werden aus Italien, Japan oder Taiwan importiert, deutsche Markenfirmen gingen prompt pleite, als es nicht mehr reichte, in regelmäßigen Abständen übergewichtige, phantasievoll kalkulierte Briefträgerteile an die Post abzuliefern. Deutscher Eisenbahntechnologie, einem Lieblingskind aller Feinde des Individualverkehrs, ging es nicht besser: Der ICE aus dem Hause Siemens erweist sich als überteuert und wenig anpassungsfähig. Mit den Abschlüssen in Korea und den USA setzt sich der französische TGV nun endgültig durch.

Italien hat gewiß keine stabile Regierung, aber seine Wirtschaft wächst um satte 2,5 Prozent. Deutschland pflegt seine sprichwörtliche politische Stabilität; doch egal wem die Wähler am kommenden Sonntag ihre Stimme geben: Die Deckungslücken und Haushaltssperren, die Konkurse und Auslandsverlagerungen, die Entlassungen und Strukturanpassungen werden sie mit keiner Wahlentscheidung aufhalten.

Politische Alternativen wie seinerzeit im Fall des Willy Brandt sind mit den Sozialdemokraten nicht in Sicht, die damaligen Möglichkeiten antizyklischer Haushaltspolitik längst ausgereizt. Am Sparen führt kein Weg vorbei. Nur, man hätte gerne Klarheit über den gesamten, sicher erheblichen Umfang, und das schnell. Dann kann man an nachher denken.

Jeder weiß, daß es unmöglich ist, die Zahl der Arbeitslosen auf mittlere Sicht wesentlich zu reduzieren. Jeder weiß, daß die vier Millionen in den überschuldeten öffentlichen Haushalten mit 150 Milliarden Mark jährlich zu Buche schlagen. Es gibt nun entweder den Weg der USA in die Zweidrittelgesellschaft oder die Möglichkeit, die tatsächlich vorhandene produktive Arbeit breiter und flexibler zu verteilen, was weniger Geld für die meisten bedeutet. Daß unsere Altparteien sich diese Frage nicht stellen, mag historische Gründe haben: Sie sind die Parteien des Nachkriegskonsens, des Wirtschaftswachstums und der Vollbeschäftigung. Aber selbst die Grünen zeigen sich außerstande, auf die Krise zu reagieren. Auf ihrem letzten Parteitag haben sie sich ohne Not zum Juniorpartner der Gewerkschaftsbewegung degradiert. Sie haben sich die gängigen Denkverbote auferlegt und wurden so selbst zum Teil der deutschen Krankheit.