Klassenkampf im Kassen-Kampf

Seitdem bei den gesetzlichen Krankenkassen die Wahlfreiheit herrscht, buhlen sie um junge Gutverdiener. Bei der AOK gibt's für den Verzicht auf Arztbesuche sogar Geld zurück  ■ Aus Berlin Barbara Dribbusch

Wer nicht zum Arzt geht, lebt billiger. Jedenfalls bei der AOK in Berlin. Dort bekommen Mitglieder, die in diesem Jahr weitgehend auf den Besuch beim Doktor verzichten, am Ende bis zu zwei Monatsbeiträge zurückerstattet. Mit dem Geldgeschenk wolle man „den jungen, gutverdienenden Facharbeitern einen Anreiz bieten, bei uns zu bleiben“, erklärt Friedrich Abraham, Sprecher der AOK Berlin. Der „Bonus“ für SelbstheilerInnen ist der neueste Dreh im Kassen-Kampf um die gutverdienenden Gesunden.

Seit diesem Jahr gibt es die Wahlfreiheit bei den „Gesetzlichen“. Derzeit darf schon wechseln, wer freiwillig versichert ist oder ein neues Arbeitsverhältnis beginnt. Zum nächsten Jahr können alle anderen die günstigste Kasse wählen. Bis zum 30. September 1996 muß die alte Versicherung gekündigt sein. „Bis zum Herbst wird sich der Wettbewerb verschärfen“, glaubt Abraham.

Bisher galt in den Gesetzlichen ein ehernes Prinzip: ArbeiterInnen und SozialhilfeempfängerInnen durften nicht in die Angestelltenkassen. Arbeitslose und RentnerInnen konnten gleichfalls nicht mehr in die Ersatzkassen wechseln. Angestellte dagegen ließen sich ebendort versichern. „Die Ersatzkassen haben sich die Rosinen herausgepickt“, klagt Abraham.

Fast ein Drittel der Versicherten in der Berliner AOK sind RentnerInnen, sogenannte „schlechte Risiken“ (Kassenjargon). Die vielen Anfälligen ließen die Beiträge in die Höhe klettern: Bei der AOK Berlin werden 14,5 Prozent vom Bruttoeinkommen fällig, inklusive Arbeitgeberbeitrag. Wer in der Techniker-Krankenkasse (TK) ist, muß nur 12,8 Prozent berappen. Das dürfte künftig so manchem AOK-versicherten Arbeiter zu denken geben. Wer beispielsweise 4.000 Mark brutto verdient, spart bei einem Wechsel in die TK jährlich 408 Mark.

RentnerInnen sind „schlechte Risiken“

Genau um die Abwanderung der jungen, arbeitsamen Mitglieder sorgen sich die Ortskrankenkassen. „Wir müssen versuchen, eine gute Risikomischung hinzukriegen“, betont Rainer Eikel, Sprecher beim AOK-Bundesverband. In Berlin, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern wurde daher der umstrittene Bonus eingeführt. Am Ende des Jahres rechnet die AOK für jedes Mitglied die Arztkosten aus, ohne Vorsorgeuntersuchungen. Sind die Krankheitskosten niedriger als zwei Arbeitnehmermonatsbeiträge, wird die Differenz als Bonus zurückerstattet.

„Da könnten doch Krankheiten verschleppt werden“, rügt Michaela Gottfried, Sprecherin des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen (VdAK), den Bonus. Die Ersatzkassen vertrauen auf ihr Image als die Kassen der besseren Klasse. „Wir werden in unserer Zielgruppe weiter wachsen“, hofft Hermann Bärenfänger, Sprecher der Techniker Krankenkasse (TK). Bei Unpäßlichkeiten „schleppt sich beispielsweise ein Architekt doch ins Büro, weil das Projekt fertig werden muß“. In Anzeigen buhlt die TK: „Suchen nette, neue Mitglieder aus Technik und Wirtschaft, gerne erfolgsgewohnt.“

Snowboardkurse, Jazztanz und Aerobic auf Krankenschein als Werbemaßnahme wollen die Kassen allerdings abschaffen. Ein Fernsehmagazin hatte kürzlich mit einem einschlägigen Bericht über diese „Verschwendung“ Aufsehen erregt. Die „Ausuferungen“ bei der Mitgliederwerbung würden künftig gestoppt, versprachen danach AOK und die Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse und der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK). Nur wirklich Gesundheitsförderndes will die AOK im Kursprogramm behalten.

Das „Gefälle“ in der Versichertenstruktur der Krankenkassen wird durch den „Risikostrukturausgleich“ zwischen den Kassen allerdings größtenteils ausgeglichen. Wer wie die AOK besonders viele Alte, Frauen und große Familien versichert, dazu noch mit niedrigem Einkommen, bekommt Milliarden aus dem Fonds. Trotzdem bemängelt die AOK den Ausgleich als unzureichend. Risiken wie Arbeitslosigkeit etwa würden dadurch nicht erfaßt.

Die Armen und Anfälligen sind unbeliebt im neuen Kassen- Kampf. Die AOK Hamburg hat jetzt ein erweitertes Methadonprogramm gekündigt. Die süchtigen SozialhilfeempfängerInnen hätten das Budget zu sehr belastet. Man wolle sich nicht länger als „sozialpolitische Feuerwehr mißbrauchen lassen“, so die Hamburger AOK-Geschäftsführerin Karin Schwemin. Vielleicht sollten es die SozialhilfeempfängerInnen mal bei der Techniker-Kasse versuchen. Die Gesetzlichen dürfen niemanden mehr ablehnen.