Korpsgeist der Polizei vor Gericht

■ Ehemaliger Polizist beschuldigt Kollegen der Falschaussage: Sie sollen Mißhandlung durch die Ehefrau eines gebürtigen Tunesiers erfunden haben. Diese sieht sich als Opfer polizeilicher Fremdenfeindlichke

Ein Expolizist sorgt als Kronzeuge vor Gericht für Wirbel: Christian D. gibt nicht nur an, selbst falsch ausgesagt zu haben, sondern wirft auch seiner ehemaligen Kollegin Anja R. vor, eine Mißhandlung frei erfunden zu haben. Aufgrund der offensichtlichen Falschaussagen von Christian D. und anderen Beamten war eine Berlinerin im vergangenen Jahr wegen Körperverletzung und Beleidigung zu 2.600 Mark Strafe verurteilt worden. Das angebliche Opfer, die Polizistin Anja R., stand gestern im Berufungsverfahren als Zeugin vor dem Landgericht. Sie streitet alle Vorwürfe ab und vermutet einen Racheakt des mittlerweile ausgeschiedenen Kollegen.

Noch immer ist unklar, was sich tatsächlich an jenem Samstag nachmittag im Juli 1993 im U-Bahnhof Zoo zugetragen hat. Die Version der 26jährigen Polizistin Anja R.: Beim Streifengang sei sie auf dem Bahnsteig vom Ehemann der Angeklagten „gepackt“ worden. Dem Versuch, seine Personalien aufzunehmen, habe sich der gebürtige Tunesier verweigert. Auf dem Weg zum Zwischendeck habe seine 38jährige Ehefrau, die den Kinderwagen schob, Anja R. „mehrmals geschubst“. Auf dem Zwischendeck angekommen, sei die Ehefrau „hysterisch“ geworden, habe zu kreischen begonnen und die Polizistin unflätig beschimpft. Nur mit Mühe habe sich Anja R. gegen einen Würgegriff der Angeklagten wehren können. Erst eine Funkstreife habe für Ruhe gesorgt.

Die Angeklagte dagegen sieht sich als Opfer des vielzitierten Korpsgeistes und der Fremdenfeindlichkeit der Polizei. Ihr Mann habe die Beamtin nur versehentlich angerempelt und sich sofort entschuldigt. Die aber habe mit den Worten reagiert: „Schon wieder so ein Scheißausländer.“ Und beim Blick auf den Kinderwagen: „Das kommt davon, wenn man sich mit Ausländern einläßt.“ Außerdem habe die Polizistin sie mit Griffen an den Hals attackiert.

Die Glaubwürdigkeit der Polizistin wird durch weitere Angaben des Kronzeugen Christian D. in Zweifel gezogen. In der vergangenen Woche hatte Christian D. ausgesagt, er sei von seinen KollegInnen zu einer Falschaussage genötigt worden. Die angebliche Körperverletzung sei erfunden. Seine Exkollegin habe ihn gebeten, sie zu würgen, um mit den Würgemalen als Beweis die Angeklagte belasten zu können. Das aber habe er nicht gemacht. Weil er die Zustände in der Berliner Polizei nicht mehr ertragen habe, sei er kurz nach dem Vorfall aus dem Dienst ausgeschieden. Christian D. soll nächsten Donnerstag, wenn der Prozeß fortgesetzt wird, noch einmal aussagen. Nach Angaben von Justizsprecher Rüdiger Reiff hängt es vom Ausgang des Verfahrens ab, ob gegen die Polizisten wegen Falschaussage ein Verfahren eingeleitet wird.

Der Anwalt der Angeklagten verspricht sich vom nochmaligen Auftritt von Christian D. die Bestätigung dessen, was sich nach dem erstinstanzlichen Prozeß in der Gerichtskantine abgespielt haben soll. Dort habe ihm Anja R. Vorhaltungen gemacht: Er solle besser aufpassen, was er vor Gericht sage, schließlich habe er sich beinahe verplappert. Dem widersprach gestern allerdings ein anderer Polizist. Er gab an, daß Anja R. ihren ehemaligen Kollegen im Gerichtsgebäude gar nicht mehr getroffen habe. Bernd Kastner