Ein Bombenleger in Pinochets Diensten

22 Jahre nach dem Mord am ehemaligen Oberkommandierenden der chilenischen Armee wird in Argentinien ein Verdächtiger verhaftet. Wieder ist Pinochets Geheimdienst verwickelt, wieder zieht sich der General aus der Verantwortung  ■ Von Kai Ambos

Er hat gleich zwei Oberkommandierende des chilenischen Militärs auf dem Gewissen, der Mann, der jetzt im argentinischen Córdoba verhaftet wurde: Enrique Arancibia Clavel. Der Chilene stand über Jahre im Sold der Dina, des Geheimdienstes der chilenischen Diktatur und ihres Chefs, Augusto Pinochet.

Aber Arancibias kriminelle Aktivitäten reichen vor den Militärputsch 1973 zurück. Als der Sozialist Salvador Allende 1970 zum Präsidenten gewählt wurde, ging allgemein die Befürchtung um, die Streitkräfte könnten gegen die Regierung gewaltsam vorgehen. Der damalige Oberkommandierende der Armee jedoch, General René Schneider, hatte schon vor den Wahlen bekräftigt, die Verfassungstreue der Armee stehe nicht zur Rede. Diese Loyalität kostete Schneider das Leben, er wurde in Santiago ermordet. Die Täter: Eine paramilitärische Gruppe namens „Patria y Libertad“ (Land und Freiheit). Mit dabei: Enrique Arancibia. Wegen Mordes gesucht, verließ er Chile und lebte fortan in Argentinien.

Als Nachfolger General Schneiders berief Präsident Allende den loyalen General Carlos Prats. Als Prats 1972 Innenminister im Kabinett Allende wurde, empfahl er als seinen Nachfolger einen, den er für verfassungstreu und der Demokratie verpflichtet hielt, einen, von dem er annahm, die immer deutlicheren Putschbestrebungen innerhalb des Militärs konterkarieren zu können: Augusto Pinochet.

Die Liason Allende-Pinochet endete bekanntlich mit dem Putsch im September 1973 und dem Tod Allendes. Prats, als Gefolgsmann Allendes betrachtet und zum Rücktritt gezwungen, mußte das Land verlassen und ging mit seiner Familie ins Exil nach Argentinien. Dort fühlte er sich bald verfolgt und wollte das Land deshalb verlassen. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Pinochets Geheimdienst Dina, unmittelbar nach dem Putsch unter der Führung von General Manuel Contreras ins Leben gerufen, war ihm auf den Fersen, und zwischenzeitlich hatte die sogenannte „Operation Condor“ begonnen, die länderübergreifende Zusammenarbeit der südamerikanischen Militärs in der Verfolgung Oppositioneller. Argentinien war nicht mehr sicher. Am 30. September 1974 wurden Carlos Prats und seine Frau Sofía Cuthbert von einer Autobombe zerrissen.

Unter Anleitung der Dina wurden nach und nach die wichtigsten exilierten Oppositionspolitiker Opfer von Anschlägen: Neben Prats waren das der ehemalige Außenminister Allendes, Orlando Letelier, der im September 1976 in Washington gemeinsam mit seiner Sekretärin getötet wurde, und Bernardo Leighton, ehemaliger Vizepräsident und Innenminister der christdemokratischen Frei-Regierung, der 1975 in Rom nur knapp einen Autobombenanschlag überlebte.

22 Jahre sind seit dem Attentat auf Carlos Prats vergangen – und bislang wurde niemand dafür zur Rechenschaft gezogen. Die chilenischen Streitkräfte haben für ihren ehemaligen Oberkommandierenden nicht einmal ein militärisches Begräbnis organisiert, geschweige denn interne Ermittlungen durchgeführt. Auch die ansonsten in Menschenrechtsfragen relativ energische erste nachdiktatorische Regierung des Christdemokraten Patricio Aylwin hat es nicht gewagt, das heiße Eisen Prats anzufassen.

Die einzigen, die niemals aufgaben, waren die Töchter von Prats. Sie haben trotz aller Widerstände praktisch private Ermittlungen durchgeführt und im Jahre 1993 die protestantische Menschenrechtsorganisation Fasic mit dem Fall beauftragt. Letztlich war es ihr Engagement, das zur Festnahme Arancibias führte.

Argentiniens Behörden kannten den Mörder lange

Dabei wußten die argentinischen Ermittler schon lange, daß Arancibia an der Ermordung von Prats beteiligt war. Als die Beziehungen der chilenischen und der argentinischen Militärdiktatur 1978 wegen des Grenzkonfliktes um den Beagle-Kanal auf dem Nullpunkt standen, war Arancibia in Argentinien wegen Spionage festgenommen worden. Um der Todesstrafe als Spion zu entgehen, eröffnete Arancibia den argentinischen Behörden, daß er an der Operation Condor beteiligt war und für die Dina arbeite.

Die Dina hatte ihn kurz nach dem Putsch „kontrahiert“ und als gesetzlichen Vertreter der chilenischen „Banco del Estado“ in Buenos Aires akkreditiert. Arancibia selbst hat diese Geschichte im damaligen Spionageverfahren durch zahlreiche Dokumente nachgewiesen. Er wurde schließlich zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch schon 1981, als sich die Beziehungen beider Staaten wieder besserten, im Rahmen eines Agentenaustauschs zwischen Argentinien und Chile begnadigt. Erst elf Jahre später, nach dem formalen Rücktritt der chilenischen Militärdiktatur (1989), wurde ein Haftbefehl gegen Arancibia wegen der Ermordung des Generals Carlos Prats erlassen.

Natürlich stellt sich heute die Frage, warum Arancibia nicht schon 1989, sondern erst 1996 verhaftet wurde, also fast sieben Jahre später, obwohl sein Aufenthaltsort bekannt war. Möglicherweise wollten die gerade im demokratischen Übergangsprozeß befindlichen Regierungen Chiles und Argentiniens Gras über die Sache wachsen lassen; möglicherweise zählte der Fall nicht zu den wichtigsten Menschenrechtsfällen. Wahrscheinlicher ist, daß die chilenisch-argentinischen Militärs in Fortsetzung ihrer guten Zusammenarbeit schlicht ein weiteres Vorgehen in dem Fall verhindern wollten. Dafür spricht, daß die argentinischen Ermittlungsbehörden die ganze Zeit gewußt haben, wer Arancibia war und wo er sich aufhielt. Weiter spricht dafür, daß die argentinischen Sicherheitskräfte schon im Jahre 1974, also noch zu Zeiten der zivilen Perón-Regierung, eng mit der Dina und anderen Geheimdiensten zusammengearbeitet haben, um nach Argentinien geflüchtete Oppositionelle aus Chile, Bolivien, Uruguay und Paraguay zu liquidieren.

Ein vertrauliches Dokument des US-Außenministeriums („Summary of Argentine Law and Practice of Terrorism“) stellt fest, daß die „Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitskräften offenbar die Genehmigung für ausländische Beamte beeinhaltete, in Argentinien gegen Exilierte tätig zu werden“.

Weiter waren „die Festnahme und der Transport dieser Exilierten in ihr Ursprungsland ohne Beachtung der dafür vorgesehenen gesetzlichen Verfahren“ vorgesehen. Arancibia selbst hatte nicht nur hervorragende Kontakte zu rechtsextremen Gruppierungen, etwa der argentinischen Gruppe „Milicia Nacional Justicialista“, und italienischen Faschisten, sondern auch zu den argentinischen Militärs. Am 20. Februar 1976 informierte er die Dina, daß er direkt vom Oberkommando der Armee erfahren haben, daß am 24. März des Jahres „die militärische Bewegung“ (die zum Putsch führte) unmittelbar bevorstünde. Er täuschte sich nur um einen Monat.

Auch in der „Operation Colombo“ spielte Arancibia eine Schlüsselrolle. Diese Operation diente zur Vertuschung des „Verschwindenlassen“ von 119 chilenischen Oppositionellen. Die Dina ließ mit Hilfe ihrer argentinischen Helfershelfer verbreiten, daß die Chilenen im Zuge gewaltätiger Auseinandersetzungen verfeindeter linker Guerillagruppen im argentinischen Exil umgekommen seien.

Um der Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, wurden entsprechende Artikel in der chilenischen Presse lanciert, und die chilenische Botschaft druckte einige Exemplare der Zeitschriften Lea (für Argentinien) und O Dia (für Brasilien), die Namen und Fotos der Toten. Die Fotos zeigten in Wirklichkeit argentinische „Verschwundene“, denen nur die Namen der chilenischen Opfer zugeordnet worden waren.

Als Arancibia 1978 wegen Spionage festgenommen wurde, war er im Besitz der Ausweispapiere der „verschwundenen“ Chilenen.

Als Arancibia nun im Januar verhaftet wurde, da nutzte Argentiniens Präsident Carlos Menem die Gunst der Stunde, um sein ramponiertes Image in Menschenrechtsfragen aufzupolieren, und empfing Prats' Töchter, um ihnen – reichlich spät – die Hilfe des argentinischen Staates zuzusichern und die Solidariät des argentinischen Volkes zu versichern. Der argentinische Innenminister Carlos Corach sprach von einer „argentinischen Schuld“, da Prats „Asyl gesucht und den Tod gefunden habe“, und die chilenische Regierung beschloß, als Nebenkläger in dem Verfahren aufzutreten; wohl auch, um weitere unerwünschte Enthüllungen rechtzeitig in ihrer Wirkung mildern zu können.

Chiles Militär ist verärgert über die Ermittlungen

Denn es liegt auf der Hand, daß der Fall Prats einmal mehr die Beziehungen zwischen den Militärs und der Zivilgesellschaft in Chile empfindlich stört. Prats war immerhin nicht irgendein linker Oppositioneller, sondern der Oberkommandierende der Armee, Innenminister und Vizepräsident der Republik. Auch Arancibia ist nicht irgend jemand. Er war nicht nur langjähriger Agent der Dina, sondern er stammt auch aus einer den Streitkräften traditionell verbundenen Familie. Sein Vater war ein mit militärischen Ehren ausgezeichnetes Mitglied der Marine. Seine Brüder sind alle Militärangehörige im aktiven Dienst. Jorge ist Chef der chilenischen Marinevertretung in London, Roberto ist Brigadegeneral, Daniel und Felipe sind Armeeangehörige.

Es ist schwer zu sagen, wie die chilenische Armee wirklich zu dem Fall steht. Nach außen jedenfalls wird Solidarität geübt und jegliche Kritik an der Armeeführung, insbesondere an General Pinochet, abgelehnt. Nachdem einige Parlamentarier es wagten, sich kritisch zur Haltung der Streitkräfte in dem Fall zu äußern und den Rücktritt Pinochets als Oberbefehlshaber der Armee zu fordern, ließen führende Generäle am 24. Januar in einer außerordentlichen Sitzung ihrem „tiefen Ärger“ freien Lauf. „Die Person des Oberkommandierenden, wie das von ihr bekleidete Amt“, so ein Kommuniqué der Armee, „verdienen den höchsten Respekt aller Sektoren des Landes.“ Jegliche Kritik und Rücktrittsforderungen wurden kategorisch zurückgewiesen. So verwundert es nicht, daß der Rechtsvertreter der Armee, General Torres Silva, apodiktisch feststellt, daß der Fall zu lange zurückliege, um irgendwelche internen Ermittlungen aufnehmen zu können.

Im Haftbefehl gegen Arancibia wird davon ausgegangen, daß die Dina in Argentinien eine aus mehr als 10 Personen bestehende Kommandoeinheit für „besondere Operationen“ installiert hatte. Diese Einheit, so der Haftbefehl weiter, hatte eine militärische Organisation und internationale Kontakte, stand in enger Verbindung mit den chilenischen Sicherheitskräften und erhielt Hilfe von offiziellen argentinischen Stellen. So erklärt sich, warum die Täter sich jahrelang unbehelligt in Argentinien aufhalten konnten.

Daß das Terrorinstrument Dina zwischenzeitlich aufgelöst wurde, konnte nicht verhindern, daß einige Tage nach der Festnahme Arancibias wichtige Verfahrensakten aus dem Justizpalast in Buenos Aires gestohlen wurden. Die zuständige Richterin bemühte sich sofort, Zweifel an der Effizienz der argentinischen Justiz auszuräumen und versicherte, alles könne rekonstruiert werden.

Sicher ist eins: Es gibt ehemalige Dina-Agenten und ihre Helfershelfer in den argentinischen, chilenischen und anderen südamerikanischen Militärs. Sie müssen fürchten, daß weitere Taten und Täter ans Licht der Öffentlichkeit kommen. Sie werden alles tun, um das Verfahren vorzeitig zu beenden.