Die Erforschung des Nationalsozialismus ist harte Arbeit. Ute Scheub sprach mit dem Holocaust-Forscher Wolfgang Benz über die psychischen Probleme, die für Wissenschaftler und Zeitzeugen daraus erwachsen, und die Pädagogik der Vermittlung

taz: Wie wird man Holocaust- Forscher?

Wolfgang Benz: Ich werde immer wieder gefragt, vor allem von jüdischen Überlebenden, ob ich die SS-Vergangenheit meines Vaters aufarbeiten muß oder ähnliches. Aber die Probleme mit meinem Vater hatten nichts mit meiner Berufswahl zu tun. Nach dem Geschichtsstudium war ich lange Jahre im Institut für Zeitgeschichte in München tätig. Als Knecht im Archiv gehörte es zu meinen Obliegenheiten, SS-Akten zu katalogisieren, die das Institut von den Amerikanern gekauft hatte. Und so saß ich da in einem dunklen Zimmer und habe die Untaten der SS systematisiert. Ich gebe zu: Eine Zeitlang erschienen die Herren in schwarzer Uniform an meinem Bett, um mich abzuholen. Also habe ich frühzeitig darauf geachtet, ein zweites Standbein zu haben und Themen der Nachkriegsgeschichte zu erforschen.

Reden Sie mit Kollegen, die nur Holocaust-Forschung betreiben, über die psychischen Gefahren dieser Spezialisierung?

Nein. Aber ich habe den Eindruck, als seien sie ziemlich einsam. Sie sind so etwas wie der lebende Vorwurf: Wir machen hier einen ganz harten Job, stellvertretend für euch andere, die ihr euch drückt. Was in gewisser Weise auch stimmt. Raul Hilberg hat sein Leben lang nichts anderes gemacht als Holocaust-Forschung. In seinen Memoiren hält er der Menschheit vor: Ich habe mich mit einem von euch abgelehnten Thema beschäftigen müssen. Aber ich persönlich möchte mein Wissen nicht als vergrämter Märtyrer vermitteln, der im Hörsaal Zerknirschung verlangt.

Weil Moralin ungeeignet ist, junge Leute in den Bann zu ziehen?

Ganz richtig. Am meisten Überzeugungskraft haben die Überlebenden. Ein guter Freund von mir, der aus dem Vernichtungslager Treblinka geflohen ist, setzt sich nicht dozierend ans Katheder, sondern schaut den Leuten ins Gesicht und erzählt, wie er in Treblinka die Kleider der Ermordeten und der noch zu Ermordenden zu sortieren hatte. Das berichtet er so wie ein anderer über die Aufklärung eines Diebstahls. Wenn ihn jemand fragt: Wie haben Sie überlebt?, dann antwortet er: Durch Zufall. Und weil ich, wie ihr alle, nicht an den eigenen Tod glaubte. Das ist äußerst eindrucksvoll. Er ist ein idealer Vermittler.

Es gibt aber auch andere Formen. Ein Auschwitz-Überlebender, den ich ebenfalls gut kenne, hat seine Erlebnisse zu einem routinierten Vortrag mit geschlossenem Ablauf zusammengebaut. Er will bestimmte Fragen hören und andere Fragen nicht.

Ist solch ein Verhalten nicht aus einer inneren Not geboren? Die Überlebenden werden ihr Trauma ihr Leben lang nicht los. Wenn sie darüber berichten, bezahlen sie das mit Alpträumen und neuerweckten Ängsten.

Richtig. Auch dieser Mann gehörte zu denen, die lange Zeit nicht über ihre Erlebnisse geredet haben. Vor fünfzehn Jahren dachte er, er müsse sterben, und schrieb seine Erinnerungen für seine Kinder auf, für die Zeit nach seinem Tod. Er genas jedoch, und nachdem das Manuskript zehn Jahre lang in der Schublade gelegen hatte, konnte ich ihn zu Veröffentlichung überreden. Das war eine Befreiung für ihn. Und dennoch reagierte er mit Schlaflosigkeit und Zusammenbrüchen, als er dann als Zeitzeuge in Schulen berichten sollte.

Die von Ihnen kritisierte Routine in seinem Vortrag ist also ein lebensnotwendiger Trick, um eine gewisse innere Distanz zu wahren.

Ja. Er rettet sich, indem er exzessive pädagogische Erklärungen einbaut: „Dann wurde ich nach Theresienstadt eingeliefert, und Theresienstadt ist nach Kaiserin Maria Theresia benannt...“ Damit entkommt er der Rolle der Opfers und schlüpft in die Rolle des Lehrers oder Mentors.

Gibt es noch andere „unideale Vermittler“?

Am schlimmsten sind die Betroffenheitslyriker, die den Holocaust für sich gepachtet haben und stellvertretend für die Opfer durchleiden. Die diese peinlichen Vorworte schreiben: „Und in meinen durchwachten Nächten habe ich Auschwitz tausendmal selbst durchlebt...“

Die Ostberliner Psychologin Annette Simon beschreibt in einem Aufsatz, wie sie als elfjährige Schülerin mit ihrer Klasse völlig unvorbereitet ins KZ Ravensbrück geschickt wird. Angesichts der Folterwerkzeuge und Leichenfotos fiel sie in Ohnmacht. Im nachhinein empfand sie den von der SED verordneten Antifaschismus als versteckten Sadismus, als Weitergabe der Verletzungen, die die einstigen Opfer erleiden mußten.

Ist das nicht auch die Hilflosigkeit des Lehrers? Ich erlebte als Student die Führung eines sehr bedeutenden Professors durch die Gedenkstätte Dachau. Er stand stumm, bedrückt und unglücklich da, ihm fiel kein einziges Wort ein. Es ist eine ganz große Naivität zu glauben, man müsse die jungen Menschen nur durch ein KZ treiben, und schon seien sie vor jedweder neonazistischer oder rassistischer Anwandlung gefeit. Dabei erreicht man durch solch ein brachiales Vorgehen womöglich das Gegenteil. Ein vielleicht noch schlimmeres Beispiel ist das Holocaust- Museum in Sydney. Ein aus Lodz stammender Immobilienhändler, dessen Familie in Auschwitz ermordet wurde, hat dort zwei Häuser gekauft und alles ausgestellt, was ihm in die Hände kam: zweihundert Isolatoren von KZ-Zäunen, eine Büchse Zyklon B, ein Raum für die Opfer medizinischer Experimente. Dort sind weibliche nackte Leichen zu sehen, die von der SS auf die denkbar indezenteste Weise schräg von unten fotografiert wurden. Als ich ihn fragte, ob er jemals über die Würde der Opfer nachgedacht habe, reagierte er verständnislos: „Wieso, man muß den Leuten doch zeigen, wie es war.“ Und ich sah voyeuristische Lust in seinen Augen aufblitzen. Jeder, der einigermaßen normal empfindet, wendet sich hier ab. Solche Fotos klären nicht auf, sondern verschließen die Augen.

Brauchen wir eine Aufklärung der Aufklärer? Mehr Schulung für diejenigen, die das Wissen verbreiten?

Diejenigen, die das Wissen verbreiten, sollten das so normal wie möglich tun. Das muß rationale Wissenschaft bleiben, das darf keine moralische Veranstaltung werden. Das Verurteilen ist nicht meine Sache.

Das glaube ich Ihnen nicht. Ohne emotional-moralische Wertung wäre die Holocaust-Forschung doch gar nicht möglich.

Das stimmt. Aber ich kann niemanden frei- und niemanden schuldig sprechen. Wenn ich in der Mitte eines Vortrags über die Verfolgung der Juden sage: „Alle haben gewußt oder konnten wissen, was war“, dann wird es erst ganz still, dann unruhig, und etliche ältere Herrschaften wollen endlich beweisen, daß sie nichts gewußt haben konnten und einen ehrenhaften Kampf in der Uniform der deutschen Wehrmacht geführt haben. Das kann im Einzelfall wirklich so gewesen sein. Aber es ist unwahrscheinlich, daß sie nichts wußten. Ich versuche dann deutlich zu machen, daß das eine Lebenslüge dieser Generation ist. Da bringe ich dann auch meinen Vater ins Spiel. Er war ein katholischer, konservativer Kassenarzt in Süddeutschland und ein Hitlergegner. Das hat ihn nicht gehindert, die Triumphe Hitlers mitzufeiern. Er war Stabsarzt in einem Kriegslazarett in Ostpreußen und fand es wie viele, die nie in der NSDAP waren, wunderbar, den Russen eins aufs Dach zu geben. Als ich ihm nach meinem Abitur 1960 eröffnete, ich wolle nicht zur Bundeswehr, wurde der Alte patriotisch.

Und dann gerieten Sie in die Studentenbewegung?

Überhaupt nicht. Auch wenn ich bei manchen als alter Achtundsechziger gelte. 1968 mußte ich aus ökonomischen Gründen ganz schnell mit meiner Dissertation fertig werden. Deswegen habe ich die APO nur ganz nebenbei mitgekriegt.

Haben es sich die Achtundsechziger mit der Verurteilung ihrer Eltern zu leicht gemacht? Sie als Schablone des Bösen mißbraucht, um selber gut sein zu können?

Ich glaube schon. Aber das ist nur die eine Seite. Ich kenne keine einzige Familie, in der die Eltern ihren Kindern über diese Zeit berichtet hätten. Allenfalls über Heldentaten oder schwere Leiden im Krieg. Mein Schwiegervater war in Sibirien, was er mit einem einzigen Satz kommentierte: „Das war schlimm.“ Aus. Und dieses Schweigen hat meine Generation – ob Achtundsechziger oder nicht – stark geprägt. Es war das Verschweigen ihrer Begeisterung über den erfolgreichen Hitler. Daß man Juden totschlägt oder vergast, haben sie sicher nicht gewollt, wohl aber, daß man sie ihres Eigentums beraubt oder vertreibt.

Verspüren Sie Wut, wenn Sie das erzählen?

Die Wut gestatte ich mir nicht. Ich würde sie mir wohl eher erlauben, wenn ich nicht professionell Aufklärung betreiben würde. Ich unterdrücke sie, weil ich nicht als Prediger mit der geballten Faust durch die Lande ziehen will. Aber ich kann schon sehr hartnäckig in der Argumentation werden, wenn mir jemand beweisen will, daß er unschuldig wie ein Engel war.

Aber was machen Sie dann mit Ihren Emotionen? Wo darf die Wut rauskommen?

Der Chirurg, der am Blinddarm hantiert, darf sich nicht die Augen trüben lassen. Aber Sie sagen jetzt wahrscheinlich, ich würde ausweichen.

Genau.

Ich kann mit den historischen Tatsachen ziemlich gelassen und kühl umgehen, dafür aber überhaupt nicht mit solchen Ereignissen wie dem Pogrom in Rostock. So etwas macht mich fassungslos, bitter und unglücklich.

Und dann stehen Sie davor und sagen: O Gott, eine Wiederholung?

Nach Rostock habe ich all den aufgeregten ausländischen Journalisten erklärt, daß das kein Volk von Neonazis und nicht die Wiederkehr von Hitler ist. Daß sie bitte nicht das gängige Vorurteil im Ausland bedienen sollen. Anderes Beispiel: Ich habe einen Freund in Australien, der als Jude in Berlin aufwuchs und vor den Nazis floh. Früher kam er alle paar Jahre nach Berlin. Letztens aber teilte er mir mit, daß er sich mit seinen deutschen Freunden nur noch in Italien treffen wolle. In Deutschland erhebe der Faschismus wieder sein Haupt. Meinem Gegenargument, im italienischen Parlament seien die Faschisten viel zahlreicher, war er nicht mehr zugänglich. Dieses Deutschlandbild hatte er allein den Medien entnommen.

Das ist ein gutes Beispiel für die Dialektik der Aufklärung. Wenn Journalisten zuviel dämonisieren, bedienen sie den Gegner.

Ja. Ich habe 1992/93 Fernsehautoren dafür kritisiert, daß sie immer wieder dieselben Archivbilder verwenden. Dieses 1993 in Rudolstadt gefilmte Trüpplein Neonazis mit dem dicken Trommler, das in Dutzenden von Berichten auftauchte, wurde doch nur ungeheuer aufgewertet. Dasselbe geschah bei der Berichterstattung über die Reps. Da gingen mir die Journalisten an die Gurgel: Das ist doch unser Informationsauftrag. Ich antwortete: Sicher, aber doch nicht so. Ihr müßt sie auf das Format bringen, das sie verdienen.

Positives Beispiel: In einem Fernsehfilm des Bayrischen Rundfunks wurde eine Schönhuber- Rede von einem Sprecher zitiert. Er selbst wurde zu einer schwarzen Silhouette eingefroren, also um seinen Auftritt gebracht.

Wenn Journalisten über einen Anschlag berichten, machen sie immer auch Reklame für Nachahmer. Wenn sie ihn aber verschweigen, verfälschen sie die Realität. Was raten Sie?

So behutsam wie möglich zu informieren. Alles, was Voyeure oder Sadisten bedient, vermeiden. Die seriöse Presse hält sich daran.

Aber auch diese veröffentlicht die schrecklichen Bilder, die nach Ihren Worten „die Augen verschließen“. Wenn ich einen Artikel mit dem Foto eines Leichenberges in einem KZ sehe, dann lese ich den nicht.

Die einen werden davon abgeschreckt, die anderen stumpfen ab. Es gibt dieses britische Bild eines Bulldozers, der im KZ Bergen-Belsen die nackten Leichen beiseite räumt. Es hat schon an sich keinen aufklärerischen Wert, und dadurch, daß man es viel zu oft sah, erst recht nicht mehr. Auch den Buchillustratoren fällt nicht viel Hilfreiches ein: immer wieder das kleine Knäblein mit dem Judenstern oder die nackten Frauen am Rande der Erschießungsgrube. Diese Schreckensbilder gehören ins Archiv. Ruhige Beschreibungen bringen hier mehr. Diese Art der Aufklärung ist ein Um-die-Ohren-Schlagen.

Raul Hilberg hat irgendwann als Quintessenz seiner Forschungen formuliert: Der Holocaust ist letztlich unerklärlich. Stimmen Sie dem zu?

Ja. Weil er die Grenzen der menschlichen Phantasie übersteigt. Wohl das erste Mal in der Menschheitsgeschichte war die Realität schlimmer als jede Phantasie. Selbst nach intensivster Lektüre von „Mein Kampf“ hätte man Auschwitz nicht vorausahnen können. Man kann sehr viele Einzelheiten erklären, aber sie ergeben kein gesamtrationales Modell.

Und kann man aus dieser Geschichte, aus Geschichte überhaupt lernen?

Trauriges Bekenntnis eines Historikers: Es spricht alles dafür, daß man es nicht kann. Vielleicht könnte man, aber man will nicht. So wie die Eltern zum Kind sagen: „Faß nicht an den Herd“, und das Kind macht es trotzdem, so muß offenbar jede Generation von neuem ihre Erfahrungen machen.

Also müssen Sie Ihren Beruf an den Nagel hängen?

Nein, einen Fortschritt haben wir durchaus zu verzeichnen: Es gibt in dieser Gesellschaft einen Konsens, daß sich Auschwitz nicht wiederholen darf. Unsere Arbeit ist es, ihn aufrechtzuerhalten.