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Straßen vermehren sich wie Karnickel

Seit Monaten blockiert Englands Alternativszene den Bau einer Umgehungsstraße – jetzt vertreiben Räumkommandos die Ökofreaks aus den Bäumen um das südenglische Newbury  ■ Aus Newbury Ralf Sotscheck

Plötzlich halten die sechs leeren Reisebusse auf der schmalen Landstraße. Die Polizisten, die auf ihren Motorrädern vorneweg gefahren sind, steigen ab und regeln den Verkehr. Rechts am Straßenrand steht ein Schild: „Willkommen im historischen Newbury“. Gegenüber führt ein Feldweg hinunter zum Kennet-Avon-Kanal. Der Boden ist matschig. Nach ein paar hundert Metern ist der Weg von drei Dutzend Männern mit weißen Helmen und leuchtend gelben Westen blockiert. Auf die Westen ist ein blaues Schild aufgenäht: „Security“.

Hier tobt die „dritte Schlacht von Newbury“. Genau genommen ist es die vierte: 1643 und 1644 lieferte sich der Republikaner Oliver Cromwell hier zwei Gefechte mit den königlichen „Kavalieren“, um die Monarchie zu stürzen, und vor 15 Jahren entstand unweit von hier in Greenham Common ein berühmtes Frauen-Widerstandscamp gegen einen US-amerikanischen Atomraketenstützpunkt. Diesmal geht es um eine Straße.

Newbury liegt etwa 80 Kilometer westlich von London. Von Norden her führt eine Schnellstraße in die Stadt, am südlichen Stadtausgang verengt sie sich vorübergehend auf eine Spur. Täglich zum Berufsverkehr kommt daher der Verkehr in Newbury zum Erliegen. Die Straßenbaubehörde glaubt, das Problem mit einer rund 14 Kilometer langen Umgehungsstraße westlich der Stadt in den Griff zu bekommen. Die Umweltschutzorganisation „Friends of the Earth“ weist darauf hin, daß es sich beim Berufsverkehr zu 80 Prozent um Ortsverkehr handelt. Die Straße wäre demnach nutzlos – und würde auch drei Naturschutzgebiete zerstören.

Im geschützten Marschland am Fluß Kennet und am parallel verlaufenden Kanal verschanzen sich seit Januar etwa hundert UmweltschützerInnen. Nachdem Snelsmore Common vor zwei Wochen geräumt wurde, ist das Kennet-Lager nun das größte der 27 Camps an der geplanten Trasse. Eines der Baumhäuser darin bietet sogar 30 Leuten Platz. Doch jetzt zerstören die professionellen Bergsteiger, die von der Räumungsfirma angeheuert worden sind, das Hüttendorf hoch über dem Boden. Im Dämmerlicht sieht man, wie sie Schlafsäcke und Lebensmittel hinunterwerfen.

Ein paar Bewohner sind ganz nach oben geflüchtet und beobachten aus den Wipfeln. Nachdem die Baumhäuser weg sind, sägen die Kletterer mit am Gürtel befestigten Kettensägen die Äste ab. Kurz vor den Wipfeln machen sie kehrt und steigen hinab. Für heute ist ihre Arbeit beendet. Das Sicherheitspersonal zieht ebenfalls ab und wird mit den Reisebussen zu dem ehemaligen Luftwaffengelände 15 Kilometer nördlich von Newbury gefahren. Dort sind 650 Mann seit Januar in drei Lagerhallen zusammengepfercht. Sie kriegen neun Mark in der Stunde.

Es dauert lange, bis die vier Umweltschützer in den Baumkronen, denen der Rückzugsweg im wahrsten Sinn des Wortes abgeschnitten ist, mit Hilfe von eigenen Profi- Kletterern wieder auf dem Boden sind. Unter den Bergsteigern – die meisten kommen aus Sheffield – ist ein erbitterter Streit ausgebrochen: Nachdem einige von ihnen bei der Räumungsfirma Richard Turner für umgerechnet 600 Mark am Tag anheuerten, wurden sie aus ihren Clubs hinausgeworfen. „Unsere Clubs haben sich immer als Naturschützer verstanden, und nun wird unser Sport für die Zerstörung der Natur mißbraucht“, sagt Ben Moon, ein ruhiger, schmächtiger Mann von Mitte zwanzig. Er ist einer der bekanntesten Kletterer in Großbritannien.

Moon und eine ganze Reihe anderer Kletterprofis helfen den Straßengegnern, bringen ihnen das Klettern bei und besetzen selbst auch Bäume, wenn die Räumkommandos kommen. Vor zwei Wochen wurde Moon von seinen früheren Clubkameraden vermöbelt, gefesselt und verhaftet. „Die Kletterer hatten einen Belgier eingefangen“, erzählt Moon, „ich war nur ein paar Meter von ihm entfernt. Er hatte keine Ausrüstung. Sie banden ihm einfach ein Seil um die Fußknöchel und holten den Kirschpflücker.“ Die Kirschpflücker sind kleine, weiße Fahrzeuge mit ausfahrbarer Plattform, die bei der Obsternte eingesetzt werden. „Sie banden das andere Ende des Seils an den Kirschpflücker und fuhren die Plattform ein“, erzählt Moon. „Dadurch wurde der Belgier an den Füßen vom Ast gezogen. Er baumelte in der Luft und schrie vor Schmerzen, als man ihn zu Boden ließ. Dann verhafteten sie ihn und brachten ihn ins Krankenhaus. Sie hatten ihm ein Bein gebrochen.“

Das Büro von „Friends of the Earth“ ist am nächsten Morgen schon seit Viertel vor fünf besetzt. Aus ein paar Räumen im ersten Stock einer Fabrik koordiniert die Umweltschutzorganisation den Widerstand gegen die Umgehungsstraße. Funkgeräte gewährleisten den Kontakt zu den einzelnen Camps. Wegen Störungen muß die Frequenz täglich geändert werden. „Wir haben zu wenige Handys“, sagt Sharyn, „dadurch geht viel Zeit verloren, um die Leute an die Stellen zu lotsen, wo sie gebraucht werden.“

Sharyn ist Ende 20, sie hat ihre langen, rotblonden Haare mit Kämmen zusammengesteckt. „Das wichtigste ist es, morgens herauszufinden, wo die Räumkommandos zuschlagen werden“, sagt sie. „Es ist verboten, ihnen nachzufahren. Ich bin neulich festgenommen worden – wegen Einschüchterung. Das muß man sich mal vorstellen: Ich habe zehn Männer eingeschüchtert, indem ich ihnen hinterhergefahren bin.“ Sharyn ist ständig in Bewegung, läuft zwischen Funkgerät, Telefon und Teeküche hin und her. Dann kommt die Nachricht, daß ein Räumkommando die vier Bäume am Kennet-Avon-Kanal, die am Vortag wegen der Baumbesetzer stehen geblieben waren, im Morgengrauen gefällt hat.

Welches der übrigen 26 Camps kommt als nächstes dran? Sharyn schickt Daz mit seinem klapprigen Lieferwagen zum Kreisverkehr an der Schnellstraße, um nach den Profikletterern Ausschau zu halten. Sie fahren einen japanischen Jeep mit silberfarbenem Dachaufbau. Nach einer halben Stunde erspäht Daz den Jeep und jagt in Richtung Autobahn hinterher.

Daz stammt aus Brighton. Er arbeitete dort jahrelang als Umweltberater. Eines Tages verkaufte er seine Eigentumswohnung und schaffte sich den Lieferwagen an. Seitdem ist er im Umweltschutz aktiv. Daz ist um die 30, sehr dünn und unrasiert. Er trägt eine grüne Pudelmütze, einen blauen Wollpullover und schwere Stiefel. „Sie nehmen die Straße zum Anlaß, um hintenrum die Stadt auszudehnen“, sagt er. „Es gibt schon 5.000 Bauanträge für das Land zwischen der Umgehungsstraße und der Stadt. Die würden normalerweise nie genehmigt werden. Die Straße macht's möglich. Und für die neuen Häuser braucht man natürlich noch mehr neue Straßen. Es ist wie bei den Karnickeln.“ Dann ist der Jeep mit den Kletterern verschwunden. Daz klappert die einzelnen Camps ab, weil der Funkverkehr mal wieder blockiert ist.

Middle Oak ist nahezu unbewacht: In der alten Eiche, umgeben von Zelten und einem Lattenzaun, sitzt nur ein einziger junger Mann. Weiter nördlich liegt das Mary Hare Camp mit einem halben Dutzend Baumhäusern. Miller Davidson von den Grünen spannt hoch oben blaue Plastikschnüre als Verbindungswege zwischen den Bäumen. „Die Situation erinnert mich an Leipzig zur Zeit der Wende“, sagt er in fehlerfreiem Deutsch. „Erst waren es nur wenige, und die haben etwas auf die Mütze bekommen. Dann wurden es immer mehr, genau wie hier. Nur dauert hier alles viel länger.“ Dann zeigt er mit dem Finger nach Westen und sagt: „Da drüben liegt eine Schule für Gehörlose. Die Kinder lernen dort klassische Musik, indem sie den Kopf auf den Tisch legen und die Vibrationen spüren. Die Straße soll mitten durch den Schulhof führen. Dann können die Kinder die tiefen Töne nicht mehr hören.“

Auf dem Weg zum nächsten Camp holt Daz in der Innenstadt sein Handy aus einem Telefonladen ab. „Sie laden es kostenlos für mich auf“, sagt er. „Viele Geschäftsleute sind gegen die Umgehungsstraße. Sie haben eine Organisation gegründet: Campaign of Business People for an Alternative to the Western Bypass. In einigen Läden und Kneipen werden die Leute von der Sicherheitsfirma nicht bedient.“

Die Räumkommandos haben inzwischen nördlich vom Kanal bei Bagnor zugeschlagen. Ein idyllischer Flecken: zwei Häuser und eine Kneipe aus rotem Backstein an einem Bach. In einem Fenster hängt ein roter Zettel – ein Antrag auf eine Baugenehmigung für einen Gartenschuppen. Er muß ausgehängt werden, damit es eine Einspruchsmöglichkeit gibt. Schließlich handelt es sich um ein Naturschutzgebiet. Keine 200 Meter hinter dem Haus lodert auf dem Hügel ein großes Feuer: Die Räumtrupps haben die abgeholzten Bäume angezündet. Aus dem Wäldchen dringt das Kreischen der Motorsägen. Etwa 200 weißbehelmte Sicherheitskräfte haben das Gelände abgeriegelt und werden von rotbehelmten Ranghöheren herumkommandiert. Wieder sitzen vier Umweltschützer hoch oben in den Baumkronen. Von weitem sehen sie aus wie Vogelnester. Innerhalb der Absperrung steht ein Schnellimbiß auf Rädern für die Sicherheitstrupps.

Plötzlich taucht aus dem Rauch ein elektrischer Golfcaddy mit einem älteren Mann am Steuer auf. Er steuert schnurstracks über den Hügel zum Golfplatz, der bisher durch die Bäume in zwei Hälften geteilt war. Später wird die Umgehungsstraße wie eine Schneise durch den Golfplatz verlaufen.

Am Fuß des Hügels neben den fahrbaren Toiletten für Holzfäller und Sicherheitspersonal hat das Straßenbauamt einen Informationswagen aufgestellt. Jim Boud, der Sprecher des Amts, ist zufrieden: „Drei Viertel der Strecke sind geräumt“, sagt er. „Heute früh sind die ersten Bewerbungen für den Bau des Projekts eingetroffen. Die Räumungsfirma wird wohl schon Ende des Monats fertig sein. Dann kann es losgehen.“ Doch die Firmen sind vorsichtig: Das Straßenbauamt muß die Zahlungen über drei Jahre verteilen, im ersten Jahr kann es nicht mehr als 18 Millionen Pfund lockermachen. Wird die Sache wegen „unvorhersehbarer Umstände“ teurer, haben die Baufirmen das Nachsehen. Zu den „Umständen“ gehört auch der Protest.

„Es geht hier nicht bloß um eine Straße“, sagt Daz. „Mit dem neuen repressiven Gesetz ,Criminal Justice Act‘ ist es inzwischen sehr schwer, kostenlose Open-air-Konzerte legal zu organisieren. Deshalb wird sich im Sommer alles auf Newbury konzentrieren, es wird hier ein riesiges Camp geben. Die Leute sind sauer, es hat sich eine Menge Haß aufgebaut. Es ist wie mit Rabattmarken: Irgendwann wird das alles eingelöst.“

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