Die Ausbildung als Startkapital

Die neuesten Zahlen sprechen eine klare Sprache. Der neue Berufsbildungsbericht aus dem Hause Rüttgers macht trotz gegenteiliger Beteuerungen des Bildungsministers offenbar, daß die Unternehmen und der öffentliche Dienst 1995 abermals ihr Versprechen, die Anzahl der Lehrstellen zu erhöhen, nicht eingehalten haben. Und alles weist darauf hin, daß die von den Spitzenvertretern der deutschen Wirtschaft bis 1997 zugesagten 10 Prozent zusätzliche Lehrstellen auch nicht erreicht werden.

Die Zukunft sieht bedrohlich aus: Nach einer Prognose der Bundesregierung werden in den kommenden zehn Jahren bundesweit gut 100.000 Jugendliche mehr nach einem Ausbildungsplatz suchen. Auch in Berlin sind wir auf eine schwierige Situation gefaßt: Die Zahl der Ausbildungsverhältnisse muß 1996 um rund 2.500 auf 57.300 gesteigert werden, um im September allen Bewerberinnen und Bewerbern eine Lehrstelle anzubieten.

In den vergangenen Jahren hat sich die Bundesregierung lange auf die Zusagen der Wirtschaft verlassen, die nötigen Ausbildungsplätze bereitzustellen, um dann im Spätsommer einzusehen, daß zahlreiche Schulabgängerinnen und Schulabgänger ohne Lehrstelle bleiben würden – wenn der Staat nicht mit SOS- Maßnahmen eingreift. Mit Hilfe der Gemeinschaftsinitiative Ost wurden 1995 zusätzliche außerbetriebliche Ausbildungsplätze geschaffen, rund 14.000 für die neuen Bundesländer, in Berlin 1.500.

Angesichts solcher Zukunftsperspektiven kann ich dem Entscheid des Bildungsministers, eine neue Gemeinschaftsinitiative dieses Jahr nicht zu bewilligen, nur mit völligem Unverständnis begegnen. Solange die Wirtschaft nicht verbindlich zur Verantwortung gezogen werden kann, darf der Staat seine Unterstützung für zusätzliche Ausbildungsplätze nicht ersatzlos kappen. Was Rüttgers als „neue Kursbestimmung in der Berufsbildungspolitik“ verkauft, ist Verschiebebahnhof-Politik zu Lasten der Länder.

Es muß allen Berliner Jugendlichen – Jungen und Mädchen – eine Berufsausbildung ermöglicht werden, denn auf dem immer härter umkämpften Arbeitsmarkt haben sie ohne Ausbildung noch schlechtere Chancen. Besonders wichtig ist mir, daß Mädchen in der Ausbildung nicht nur in die typischen Frauenberufe abgedrängt werden, sondern auch in zukunftsträchtigen Berufsfeldern, zum Beispiel im gewerblich-technischen Bereich, eine Perspektive erhalten. Ebenfalls eine Ausbildungs- Chance müssen Jugendlich ohne Hauptschulabschluß erhalten. Doch ich möchte ummißverständlich klarstellen: Eine Arbeitsteilung, bei der die Spitzenvertreter der Wirtschaft dem Bundeskanzler Versprechungen für Ausbildungsplätze abgeben und die Länder außerbetriebliche Ausbildungsplätze als Ersatz finanzieren, ist auf Dauer nicht akzeptabel.

Trotz der mehr als angespannten Haushaltssituation hat der Senat 24 Millionen Mark mehr für die berufliche Bildung zur Verfügung gestellt als 1995. Mit zusätzlichen außerbetrieblichen Lehrstellen können zwar kurzfristig Lücken gestopft werden, sie sind auf die Dauer jedoch keine echte Alternative zur betrieblichen Ausbildung. Das duale System der beruflichen Bildung hat sich bewährt. Es muß jedoch auf eine neue Basis gestellt werden. Betriebe, die nicht ausbilden, sollen sich wenigstens finanziell beteiligen müssen. Kleine und mittlere Betriebe, die nicht imstande sind, eine volle Ausbildung anzubieten, sollten sich an Ausbildungsverbünden beteiligen können. Eine neue Basis ist notwendig, denn eine Ausbildung ist für jeden Jugendlichen Startkapital für das Berufsleben. Dr.Christine Bergmann

Die Autorin ist Senatorin für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen