Chancen für Spezialisten

Wer sich dem Trend widersetzt und Fachkenntnisse vertieft, kann als Anwalt auf Erfolg hoffen. „Discount-Juristen“ droht die Arbeitslosigkeit  ■ Von Christian Arns

Hervorragende Karrieremöglichkeiten werden in Aussicht gestellt – in großen Lettern sucht eines der größten europäischen Versicherungsunternehmen junge Leute „mit der Qualifikation als Volljurist/in“ und mit „Gespür für wirtschaftliche Zusammenhänge“. Doch selbst Kandidaten mit herausragendem Examen entsprechen selten den Wünschen: „Wir hätten bei unseren Bewerbern gerne einen tieferen Fundus“, sagt Hans-Dieter Waller von der Allianz Lebensversicherungs-AG in Stuttgart. Doch der Leiter der Personalabteilung klagt: „Leider entdecken wir den nur zu selten.“ Das Wirtschaftsrecht sollte nach seiner Ansicht größere Bedeutung in der Juristenausbildung spielen.

Mehr individuelle Kenntnisse in einzelnen Fachgebieten bräuchten die Berufsanfänger, das war auch das zentrale Ergebnis einer Podiumsveranstaltung des Deutschen Anwaltvereins mit Studenten im letzten Sommer in Berlin: „Der zukünftige Anwalt muß – will er erfolgreich sein – vor allem Spezialkenntnisse in einem bestimmten Rechtsgebiet haben.“

Dem jedoch laufen die augenblicklichen Entwicklungen genau zuwider: Während zum einen der Trend zum immer kürzeren Studium geht, wird zum anderen unbeirrt daran festgehalten, die drei großen Rechtsgebiete gleichermaßen zu bearbeiten. Jeder Absolvent solle sich „mit dem Zivilrecht, dem Strafrecht und dem öffentlichen Recht in gleicher Weise vertraut gemacht“ haben, so die Forderung des Deutschen Juristen-Fakultätentages. In seinen zwölf Würzburger Thesen zur Juristenausbildung begründen die Universitätsprofessoren das Festhalten am „traditionellen Bild des Einheitsjuristen“: „Ziel einer verantwortungsvollen Ausbildung darf nicht der auf einem engen Arbeitsfeld ,berufsfertige‘ Jurist sein. Sie muß umfassend ,berufsbefähigte‘ Juristen hervorbringen.“

Diese Befähigung wird jedoch zunehmend in Frage gestellt: Die allgemeine Forderung, Studienzeiten müßten verkürzt werden, ist seit einigen Jahren fest in der Juristenausbildung verankert: Wer sich noch bis Ende des achten Fachsemesters zum Examen meldet, darf dieses nicht nur zweimal, sondern dreimal versuchen. Der erste Versuch ist ein „Freischuß“ (siehe Kasten).

Seitdem wird kürzer studiert, vor allem von den Finanzministern wird die Einführung daher als Erfolg gefeiert. Martin Schacher von der Gesellschaft Hochschul-Informations-System (HIS) hat durch eine Befragung von 4.700 Studierenden herausgefunden, daß deutlich mehr als die Hälfte der Studierenden die Reform für „völlig gelungen“ hält. Nur ein knappes Zehntel bezeichne den Freischuß als „völlig mißlungen“.

Diese Einschätzung könne sich grundlegend ändern, wenn die Absolventen erst einmal einen Job suchen, befürchtet Harald Weber. Der Professor für Steuer-, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Uni Bielefeld bezeichnet den Freischuß als „Meilenstein auf dem Wege zum Discount-Juristen“.

Die Ausbildung geht nach seiner Einschätzung „völlig am Arbeitsmarkt vorbei“, denn sie orientiere sich an den Anforderungen an Richter und Notare, obwohl mindestens acht von zehn Berufseinsteigern in einer Anwaltskanzlei Arbeit finden müßten. Die Ausbildung sei zudem nur auf Prozesse ausgerichtet, dabei „ist statistisch erwiesen, daß die Prozeßführung nur rund 20 Prozent der anwaltlichen Tätigkeit ausmacht“.

„Gerade das Referendariat vermittelt vor allem prozessuale Fähigkeiten“, stimmt ihm Allianz- Personalchef Waller zu: „Darauf könnten wir verzichten.“ Er hält die Ausbildung für „zu konservativ, sie ist auf eine Anstellung bei Vater Staat ausgerichtet“. Der aber tritt immer seltener als Arbeitgeber in Erscheinung, wie die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg bestätigt. Die Folge: „In keiner anderen Berufsgruppe des Arbeitsmarkts für qualifizierte kaufmännische und Verwaltungsberufe öffnete sich die Schere zwischen offenen Stellen und Bewerbern am Jahresende so drastisch, wie bei den Juristen.“ Die Zahl der offenen Stellen sank um ein knappes Viertel, während die Zahl der Bewerber in der gleichen Relation stieg. Anfang 1995 waren daher 4.482 Juristen arbeitslos gemeldet.

Erheblich bessere Chancen hatten nach Einschätzung der Nürnberger Arbeitsmarkt-Beobachter keineswegs die jüngsten Bewerber, sondern die „mit möglichst breit gefächerten Zusatzqualifikationen“. Die sind aber rein zeitlich kaum noch zu erwerben, denn wer am Freischuß teilnehmen möchte, muß sein Studium beinahe ab dem ersten Semester prüfungsrelevant gestalten, Seminare werden nur noch sechs Semester lang besucht. Dabei bleiben zahlreiche Rechtsgebiete „vollkommen auf der Strecke, die zwar kein Pflichtfach im Examen sind, aber anders als diese unverändert gute bis hervorragende Berufsaussichten ermöglichen“, so Jura-Professor Weber. Nach seiner Ansicht sind viele Juristen „schon am Ende ihrer Ausbildung reif für die Umschulung“.