Passable Passanten

Krimis der Normalität: Die junge dänische Autorin Solvej Balle führt in vier Erzählungen ins Land der Kälte und des Verschwindens  ■ Von Peter Michalzik

Der Passant, wenn er denn einmal stehenbleibt, wird in unserer beschränkten Wahrnehmung meist zum Gaffer. Unfälle, Aufmärsche und Promi-Auftritte, er wirft sein schamloses und gieriges Auge immer dahin, wo was los ist. Im Schutz dieser Vulgärversion aber reift der durch die Welt jettende Vorübergeher (auch: Passagier), zumindest in der Literatur, langsam und unauffällig zu einem Helden unserer Zeit. „Sie kannte ihre Plätze, Kaianlagen und Hafengebiete zu gut, um zu den Reisenden mit flackernden Blicken und zögernden Schritten zu gehören, und ihre Fremdheit war dennoch groß genug, daß sie, wenn sie von Einwohnern oder Händlern wiedererkannt wurde, als Fremde oder entfernte Bekannte empfunden wurde, an deren Gesicht man sich zwar erinnerte, deren Namen aber man schon lange vergessen hatte.“ Abgesehen davon, daß an diesem Satz von Solvej Balle die Probleme der Übersetzung mit Rhythmus und Wortwahl deutlich werden, bezeichnet er das Passagere moderner Existenzformen, die überall und nirgends zu Hause sind, ziemlich genau.

Natürlich hat der Passant Vorläufer, Büchners Lenz etwa oder die vielen Flaneure vor und nach der Jahrhundertwende. Aber die vollkommene Fremdheit und Kälte, die nicht nur in den kurzen Erzählungen von Solvej Balle die Figuren durchdringt, sondern die auch viele andere, formal auffallend ähnliche Texte bestimmt, etwa von Alissa Walser, Thomas Hettche oder Emmanuele Bernheim, ist doch von eigener Qualität (Camus' Fremder erscheint da fast wie ein Einheimischer). Es sind fast immer kurze, auffallend oft von Frauen geschriebene Bücher, brillant und souverän. Mager, vielleicht sogar anorektisch, leben diese Texte von unbestechlicher Sehschärfe. Orte sind immer nur Durchgangsstationen, unsere Zeit ist den Figuren fremd, sie machen davon aber kein Aufhebens (in den besseren Texten wenigstens).

Kälte, Ortlosigkeit, Raffinement

Die vier Parabeln der Dänin Solvej Balle spielen in eben diesem Viereck von Ortlosigkeit, Eiseskälte, Folgerichtigkeit und Raffinement. Ihre Protagonisten sind alle in Selbstauflösung begriffen. Nicolas S. aus Quebec sucht nach der chemischen Verbindung, die den Menschen aufrecht gehen läßt, und verliert deswegen die Beziehung zu seiner Freundin; Tatjana L. läßt eine zusammenbrechende Person am Baseler Bahnhof zurück und verliert sich von da an in Spanien und Paris auf der Suche nach dem Schmerz, den sie nicht spüren kann; René G. ist Mathematiker aus Kopenhagen und versucht, in Salt Lake City eine Null zu werden, das heißt in seinem Fall, Handlungen zu minimieren; und Alette V. träumt davon, der leblosen Materie gleichzuwerden, und setzt das in Quebec auch in die Tat um.

Die Stimmung ist in allen Geschichten gleich, sie wird von dem objektivierenden, gleichmütigen Ton bestimmt. Zwei der vier letzten Sätze lauten: „Sie schlief“ und „Es regnet“. Die Verknüpfung der Texte ist lose, möglicherweise handelt es sich etwa bei der Person, die Tatjana L. in Basel zurückließ, um René G., aber das wissen wir nicht.

Unwägbarkeiten, Abgründe, Präzision

In einer Erzähldialektik, derer sich nicht erst Solvej Balle bedient, wird alles Subjektive, insbesondere Gefühl und Zwischenmenschliches, zum Meer unbenennbarer Unwägbarkeiten und Abgründe, in dem die eindeutigen Sätze wiederum zu Inseln der Gewißheit werden, auffallend oft wird die Uhrzeit registriert und notiert. Alette V. befördert sich mit Champagner und kanadischer Kaltluft ins Reich der Dinge. Das Präziseste, was wir darüber erfahren, ist, daß sie sich dabei einer Flasche der Marke Moät & Chandon bedient. So können wir eindeutig identifizieren, daß sie die Person ist, deren Hirn Nicolas S. auseinanderschneidet, um die Phosphatverbindung zu finden, die die vertikale Orientierung des Menschen verursacht. Verbindung über den Markenartikel, auch das ein Baustein aus der Welt des Passanten.

Obwohl das objektivierende Schreibverfahren unmittelbar einleuchtet, hat es Tücken. Denn indem hier Gesten und Handlungen unweigerlich enorme Bedeutung bekommen, müssen sie durch Beiläufigkeit ausbalanciert werden. Diese Gratwanderung gelingt Solvej Balle nicht immer. In der ersten Erzählung bleibt die Geschichte vom aufrechten Gang noch im Gleichgewicht, weil sich aufgrund der wissenschaftlichen Beschäftigung von Nicolas S. der wissenschaftliche Jargon wie von selbst ergibt. Aber schon im zweiten Text wirkt das wiederholte Stürzen verschiedener Passanten gesucht – eben weil es zum ersten Text in sinnreicher Beziehung steht.

Überhaupt führt hier die Suche nach dem Schmerz nicht bis zum angelegten Ende. Solvej Balle dringt in sein Geheimnis nicht ein. Der formalen Eleganz werden stellenweise die Phänomene geopfert, denen sie auf der Spur ist.

Für die Leser hat dieses Schreiben den Vorteil, transparant zu sein. Falsche Sätze bemerkt man sofort, alles ist nachvollzieh- und nachprüfbar, der Text funktioniert als ein Krimi der Normalität, die jeder kennt. So wittert der geübte Alltagskriminalist in der ersten Erzählung sofort, daß Nicolas S. von dem Moät & Chandon-Tod einerseits überhaupt nicht berührt wird, daß andererseits nichts größere Bedeutung für ihn hat als das geheime Leben der toten Frau. Wie distanziert er damit umgeht, macht die Qualität des Textes aus. Das letzte Wort im Land von Kälte und Verschwinden hat Solvej Balle noch nicht geschrieben. Aber ihre Passanten machen deutlich, worum es geht.

Solvej Balle: „Nach dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen“. Aus dem Dänischen von Jürgen Scherzer. Berlin Verlag 1996, 124 Seiten, 29,80 DM