: Revolution und Selbsthaß
Bilanz einer Illusion: Die bahnbrechende Studie des französischen Historikers François Furet über die Faszination des Kommunismus im 20. Jahrhundert ■ Von Iring Fetscher
Frankreich ist noch immer das Land der Großen Revolution von 1789. Seine Historiker und Intellektuellen sehen die Welt unter dem Zeichen der bürgerlichen und demokratischen Revolution sowie der großen Hoffnungen, die sie beflügelt haben. Auch François Furet lebte unter dem Bann dieser Tradition, bis er sich durch sein Buch „Penser la Révolution française“ davon befreite. Zuvor schon hatte er sich 1956 von der Kommunistischen Partei getrennt, die sich als Erbin der jakobinischen Episode der Revolution verstand. Durch seine Kritik der idealisierenden Historiographie der Revolution von 1789-1815 legte er die Basis für sein Buch über das „Ende einer Illusion“, der Illusion nämlich, die Oktoberrevolution und der Sowjetkommunismus hätten die Hoffnungen erfüllt, die mit dem Untergang der Jakobiner vorübergehend begraben worden waren. Eigentlich ist sein Buch mehr eins über die Entstehung dieser Illusion als über deren Ende. Das Ende wird eingeläutet durch die mutige Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU und die Entmythologisierung des „Großen Führers Stalin“. Vollends offenbar ist es unter Gorbatschow und seinem Nachfolger geworden.
François Furet setzt eindrucksvoll mit dem Aufweis der inneren Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Revolution ein. Einerseits bringt sie die Emanzipation des Individuums und legitimiert den Egoismus als Motiv für das Prosperieren einer Marktwirtschaft, andererseits strebt sie eine politische Gemeinschaft an, in der Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen. Es ist – in der Terminologie der Historiker – der Spannungszustand zwischen Liberalismus und Demokratie, zwischen Rousseau und Adam Smith. Die Jakobiner suchen ihn durch Indoktrination und Terror, durch Forderung nach bürgerlicher Tugend und Kampf gegen die „neue Aristokratie“ der Reichen zu lösen. Zugleich halten sie an der Heiligkeit des Privateigentums fest. Schon Babeuf und die späteren utopischen Sozialisten gehen über diesen Standpunkt hinaus und fordern sozialökonomisches Gleichgewicht.
Eine wesentliche Schwäche des Bürgertums als neue führende Klasse besteht darin, daß es außerstande ist, sich als „politische Klasse“ zu konstituieren. Bei solchen Themen spürt man noch Furets marxistische „Schulung“. Im ganzen 19. Jahrhundert akzeptieren die Bourgeois Frankreichs (und erst recht die Deutschlands) einen Kompromiß mit den alten, herrschaftsgewohnten Vertretern des Adels und begnügen sich mit dem Genuß ihres Eigentums. Noch harmonischer verläuft die Entwicklung in England, wo sich das aufsteigende Bürgertum mit dem Adel vereinigt und von jenem auf den Public Schools erzogen wird. Trotz sozialer Konflikte bleibt das ganze 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg relativ stabil und friedlich. Der Weltkrieg ist die große Wasserscheide: Nach diesem blutigen Völkerkrieg wird nichts mehr so sein wie zuvor. Nicht nur materiell, auch ideell und psychisch ist dieser Krieg das entscheidende Ereignis, von dem aus die folgenden Jahre und Jahrzehnte erklärt werden müssen. Ganz ähnlich hat auch Eric Hobsbawm in seiner Studie „Zeitalter der Extreme“ unser Jahrhundert auf die Zeit zwischen 1914 und 1989 begrenzt und vom friedlicheren Jahrhundert zuvor unterschieden. Während aber Furet die Mythen, Emotionen und Illusionen der „Massen“ zum Thema hat, legte Hobsbawm den Akzent auf Ökonomie, Soziologie und Politik. Die Lektüre seines Buches kann die Einseitigkeiten der Ausführungen von Furet korrigieren.
Die zentrale These Furets lautet: Sowohl der sowjetische Kommunismus als auch der italienische und deutsche Faschismus sind Produkte des Ersten Weltkrieges. Die seelische und geistige Verwirrung, der Haß und der Selbsthaß der Menschen nach einem für alle frustrierenden und als sinnlos empfundenen Krieg leisten der Entstehung dieser widersprüchlichen und doch zugleich verwandten Ideologien und Bewegungen Vorschub. Beide bieten sie einen „Sinn“, eine Sinndeutung des Geschehens an, beide vermitteln sie (illusorische) Hoffnungen, beide setzen sich an die Stelle der religiösen Orientierung: eine Sinndeutung des neuen Gottes: Geschichte!
Die Entwicklung in Rußland von der Februarrevolution zur Oktoberrevolution können Franzosen leicht nach der Analogie des Übergangs von der ersten (konstitutionell-monarchischen) zur zweiten (republikanischen und jakobinischen) Phase der Großen Revolution verstehen. Zugleich besitzt die Partei Lenins den Vorzug gegenüber den sozialistischen Parteien der anderen Staaten, daß sie von vornherein gegen den sinnlosen Völkermord war. Der Aufruf der Bolschewiki 1917 an alle Kriegführenden, sofort Frieden zu schließen, und ihre Bereitschaft, selbst um den Preis großer Gebietsverluste die Bedingungen der Mittelmächte in Brest-Litowsk zu akzeptieren, bestätigen in den Augen der westlichen Intellektuellen die beispiellose Friedfertigkeit der Leninisten. So kommt es dazu, daß keineswegs nur Marxisten, sondern auch viele bürgerliche Republikaner der Oktoberrevolution zujubeln. Die Tatsache, daß die kleine russische Bourgeoisie verfolgt, verjagt, dezimiert wird, nehmen die französischen Republikaner – wenn sie sie überhaupt zur Kenntnis nehmen – hin. Der Selbsthaß der Bourgeois kommt dem entgegen. Das gespaltene bürgerliche Bewußtsein optiert für den idealisierten revolutionären Demokraten – auch wenn er in Gestalt des leninschen Kommunisten erscheint. Furet zeigt, wie naiv viele französische Bürger die Oktoberrevolution und die Machtübernahme der elitären Avantgardepartei Lenins rechtfertigen.
Im Unterschied zu naiven bürgerlichen Republikanern waren einige Marxisten – wie Rosa Luxemburg und ihr alter Gegner Karl Kautsky – weit klarsichtiger. Sie sahen schon früh die Entstehung einer unumschränkten Einparteienherrschaft voraus, unter der alle Emanzipationsversprechungen zunichte werden mußten. In einem so rückständigen Land wie Rußland konnte die Machtergreifung einer Partei, die den Sozialismus verwirklichen will, nur zu terroristischer Vergewaltigung führen. Lenin freilich hoffte auf eine „Rettung“ der Revolution im rückständigen Rußland durch die Deutschen. Als 1923 diese Hoffnung definitiv gescheitert war, begann eine neue Etappe, zu deren Repräsentant Stalin wurde. Was bei Lenin noch eine den Umständen geschuldete Organisationsform war, machte Stalin zur Doktrin. Die Monopolpartei (freilich schon von Lenin akzeptiert) wurde zu einer ideologisch legitimierten hierarchischen Führungseinheit mit dem „Woschd“, dem „Führer“, an der Spitze. Das völlig Neuartige daran war, daß dieser Tyrann (wie ihn Elie Halévy 1936 zutreffend nannte) über eine angeblich wissenschaftliche Theorie verfügte: Die marxistisch-leninistische Geschichtstheorie erlaubt den Sinn der historischen Entwicklung zu erkennen, das Proletariat ist das welthistorische Subjekt der Geschichte, es ist aber unfähig, seine Rolle zu spielen ohne Führung durch die Avantgardepartei, in der Avantgardepartei aber stehen die besten (wissenschaftlich fähigsten) Führer an der Spitze des Zentralkomitees, das wiederum vom Politbüro mit Stalin als Führer geleitet wird. So ist letztlich Stalin die Inkarnation des Sinns der Geschichte und das Gewissen der fortschrittlichen Menschheit. Nachdem Ideologie und brutale, terroristische Herrschaft derart begründet worden ist, stellen die Entmythologisierung Stalins und die Aufdeckung seiner Verbrechen 1956 den Anfang des Endes dar. Chruschtschow glaubte, ohne Aufgabe die Monopolpartei reformieren zu können, aber damit eröffnete er den Weg zunächst zum Polyzentrismus und schließlich zum Untergang des „Systems“.
Der Faschismus und der Radikalfaschismus der Nazis waren gleichfalls Produkte des Weltkrieges, aber während die Leninisten von ihren unversalistischen Ideen und dem Erbe der Revolution profitierten, engagierten sich die Faschisten für den Partikularismus der Nation. Gemäßigt noch im Fall Mussolini, extrem bei den Nazis. Das Gegenbild des leninschen Kommunismus half bei der Mobilisierung der Massen und von Teilen des Bürgertums wie der Konservativen. Aber der Faschismus war keine neue Spielart der Konterrevolution, sondern ideologisch revolutionär. Er übernahm von den Kommunisten die Methoden der Massenmobilisierung und später der Herrschaftsfestigung. Furet täuscht sich übrigens, wenn er meint, seine Argumente seien denen von Ernst Nolte verwandt. Die Faschisten und insbesondere die Nazis „reagierten“ nicht voller Angst auf den Kommunismus, sondern benützten den Antikommunismus als Mittel, um Bundesgenossen im verschreckten Bürgertum und unter den alten Konservativen zu gewinnen. Sie selbst – so jedenfalls Hitler in „Mein Kampf“ – waren im Gegenteil davon überzeugt, daß die Sowjetunion durch die „Dezimierung der nordischen Eliten“ unter „jüdischer Führung“ ein leichtes Opfer deutscher militärischer Expansion sein würde. Furet, der den Antifaschismus zum Hauptverantwortlichen für die Aufrechterhaltung der Illusionen über den Kommunismus macht, vergißt, daß spiegelbildlich der Antikommunismus eine ganz ähnliche Rolle gespielt hat. In England und in den USA präsentierten sich die Nazis – nicht immer erfolglos – als Schutzschild des Westens vor dem Bolschewismus, und auch wenn Hitler vor Unternehmern sprach, stellte er allein den Antikommunismus und seine Absicht, „die Arbeiter für die Volksgemeinschaft zurückzugewinnen“, heraus und verschwieg seinen Antisemitismus. Der von Furet beschworenen Illusion des Antifaschismus, die in der Tat in der Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach eine wichtige Rolle bei der verharmlosenden Beurteilung des Kommunismus – namentlich in Frankreich und Italien – gespielt hat, entspricht die Rolle des Antikommunismus, die er unterbelichtet hat.
Hitler überbietet den Nationalismus durch den Rassismus und beansprucht für seine Ideologie eine universale Bedeutung. Es handelt sich um einen universalen Partikularismus, die Behauptung, daß es nicht auf Menschenrechte und Gleichheit, sondern auf rassische Besonderheit und Herrschaft ankomme. Konsequenz dieser extremistischen Ideologie ist die beispiellos barbarische, massenhafte Tötung wehrloser Menschen – namentlich der Juden. Durch seine Verbrechen und seine Verfolgung von Demokraten wie Kommunisten macht Hitler die Ideologie der Gemeinsamkeit westlicher Demokraten und des kommunistischen Machthabers plausibel. Schon seine und Mussolinis Intervention in den Spanischen Bürgerkrieg half, diese Illusion zu begründen. Die gewaltsame Unterdrückung von Anarchisten und Trotzkisten durch sowjetische Emissäre in Spanien wurde darüber „vergessen“. Auch in diesem Fall waren es ehemalige Linke – wie George Orwell –, die die Wahrheit über die sowjetische „Hilfe“ für das republikanische Spanien ans Licht brachten. Die bürgerliche Öffentlichkeit in England und Frankreich hat sie zumeist überhört.
Beide Regime – das bolschewistische wie das nationalsozialistische – waren totalitär. Beide stellten sie einen völlig neuartigen Herrschaftstypus vor, beide wurden sie verkannt. Furet behandelt nur (oder fast ausschließlich) die Illusionen hinsichtlich des Bolschewismus. Er hat stärker als frühere Autoren die Rolle der Emotionen – der Gefühle von Haß, Selbsthaß, irrationaler Begeisterung und blindem Vertrauen in der jüngsten Geschichte – herausgestellt, und insofern kann man von ihm lernen. Das „Ende der Illusion“ hat er nicht durch selbstkri
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tische Reflexion herbeigeführt, sondern – nachdem es passiert war – zu verstehen gesucht, wie es zu dieser (von ihm geteilten) Illusion hatte kommen können. Französische Linke wollten – bis 1956 und bis zur Veröffentlichung der Bücher von Solschenizyn – von der Realität in der Sowjetunion nichts wissen. Sie wußten aber auch nur wenig von den Gegensätzen zwischen der kritischen Theorie von Marx und deren dogmatischer Verzerrung durch Lenin und vollends Stalin. Sie haben Stalin eher gelesen als Marx, und von Marx oft nur soviel verstanden, wie Stalin „davon geerbt“ hat. Vielleicht hätte Furet darauf kommen können, daß es wohl doch kein Zufall war, wenn zwei – noch dazu höchst unterschiedliche – Marx-Kenner wie Rosa Luxemburg und Karl Kautsky schon früh den Charakter der Leninschen Partei und der künftigen Sowjetunion erkannt haben. Kautsky übrigens auch den ganz ähnlichen Charakter des „Dritten Reiches“. Wenn freilich Furet in einer ausführlichen Fußnote (Seiten 649 bis 653) glaubt, Ernst Nolte verteidigen zu müssen und ihm lediglich die Benützung des Aufrufs von Chaim Weizmann an die Juden in aller Welt, an der Seite der Engländer zu kämpfen, als „eine Art ,rationaler Begründung‘“ für den Genozid an den europäischen Juden als „schockierend und falsch“ ankreidet, dann dürfte das auf seine Entfernung von Berlin zurückzuführen sein, die Noltes „unterschwellig vorhandenen gedemütigten deutschen Nationalismus“, „der ein Hauptmotiv seiner Bücher“ sei, für allzu harmlos hält. Im übrigen haben selbst Noltes Kritiker während des „Historikerstreites“ nie geleugnet, daß er auch Verdienste als Historiker hatte. Es wäre schade, wenn die beachtliche These von Furets Buch durch diese eine Fußnote allzusehr beeinträchtigt würde.
Furet ist ein Ideengeschichtler. Die Tatsache, daß die Sowjetunion auch ein Staat mit einer realen Entwicklung war, und daß sie – unter unentschuldbaren, massenhaften Opfern – aus einem rückständigen Agrarland eine Industriegesellschaft gemacht hat, war für die Einstellung westlicher Politiker gegenüber Stalin und seinen Nachfolgern sicher nicht weniger wichtig als die ideologischen Mißverständnisse und Illusionen französischer Republikaner und sonstiger Intellektueller. Raymond Aron, auf den Furet sich gelegentlich beruft, hat in seiner kühlen Nüchternheit die Entwicklung der Sowjetunion zu einer Industriegesellschaft (mit besonderer Betonung der Schwerindustrie) mit der gleichfalls nicht idyllischen (aber weniger katastrophalen) Weise verglichen, auf die sich England im vergangenen Jahrhundert marktwirtschaftlich industrialisiert hat. Die autoritäre Planwirtschaft hatte einige Zeit – und während der Weltwirtschaftskrise hat das den Westen beeindruckt, wie Furet bemerkt – in der Tat erstaunliche Wachstumsraten aufzuweisen (auch wenn sie von der Propaganda übertrieben wurden), aber auf einem bestimmten Reifegrad angelangt, konnte mit Terror und ideologischer Mobilisierung die Entwicklung nicht mehr vorangebracht werden. Auch daran ist die Sowjetunion gescheitert. Daß alle Versuche zu einer Reform ohne Aufgabe des Parteimonopols mißlangen, habe ich auf die „Lernunfähigkeit“ monolithischer Systeme zurückgeführt. Sie war im Fall des „Dritten Reiches“ noch ausgeprägter und tödlicher als in dem der Sowjetunion.
François Furet: „Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert“. Aus dem Französischen von Karola Bartsch, Eliane Hagedorn, Christiane Krieger und Barbara Reitz. Piper Verlag 1996, 768 Seiten, geb., 88 DM
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