Russischer Terror in Tschetschenien

Die zunehmend demoralisierte russische Armee vernichtet ein tschetschenisches Dorf nach dem anderen. Die Strategie scheint zu sein, das ganze Land dem Erdboden gleichzumachen  ■ Von Klaus-Helge Donath

„Wir mußten uns alle zusammenstellen, und dann warfen sie plötzlich Granaten zwischen uns“, berichtet eine ältere Frau aus Samaschki, die mit dem Leben knapp davon gekommen ist. Vier Zivilisten starben auf der Stelle, die übrigen wurden schwer verletzt. Seit einer Woche wütet die russische Armee von neuem in der Stadt im Westen Tschetscheniens. Fast auf den Tag genau vor einem Jahr hatten russische Einheiten den Ort schon einmal heimgesucht; Hunderte Zivilisten wurden auf brutalste Weise hingeschlachtet. Seither ist Samaschki ein Synonym für russischen Terror.

Auch beim zweiten Überfall hatte die Zivilbevölkerung keine Chance, das Dorf vor Beginn der Kämpfe zu verlassen. Weder Journalisten noch Hilfsorganisationen werden an den Ort des Grauens vorgelassen. Das Wüten der Armee in Samaschki belegt, daß der Kreml seinem Ziel, die Anhänger des abgetauchten tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew unschädlich zu machen, im Laufe eines Jahres keinen Zentimeter näher gekommen ist. Mit großen Verlusten erorbern russische Truppen Dörfer zurück, die sie schon vor einem Jahr eingenommen hatten.

Der Krieg in Tschetschenien läßt sich für Rußland nicht gewinnen – es sei denn, man radiert die Kaukasusrepublik von der Landkarte, und darauf scheint die russische Strategie hinauszulaufen. Ein Ort nach dem andern im südlichen und westlichen Vorgebirge wird dem Erdboden gleichgemacht. Die Taktik ist bekannt. General Alexej Jermalow, der Anfang des 19. Jahrhunderts im Dienst des Zaren den Kaukasus unterwarf, bediente sich der gleichen Methoden. Doch diese Strategie hat im Kaukasus noch nie gefruchtet.

All das spielt sich vor dem Bekenntnis Präsident Jelzins ab, den Krieg so schnell wie möglich beenden zu wollen. Vergangene Woche verkündete der Präsident nach einer Sitzung des Sicherheitsrates, man habe nun einen endgültigen Entwurf für einen „Friedensplan“. Einzelheiten versprach er, Ende März bekanntzugeben. Nicht die kleinsten Details sind seither durchgesickert. Das stimmt in Moskau, wo sich immer ein Leck im Staatsschiff findet, mißtrauisch: Womöglich verfügt der Kreml über gar keinen Plan.

Dabei muß Präsident Jelzin unbedingt im Kaukasus einen Fortschritt erzielen, um die Präsidentschaftswahlen im Juni erfolgreich zu überstehen. So bot Verteidigungsminister Pawel Gratschow sogar ein Treffen mit Dudajew an. Doch das war lediglich fürs Publikum draußen bestimmt. Treffender umschrieb Innenminister General Anatolij Kulikow die Aufgabe der Armee: Nicht Verhandlungen, sondern die schnellstmögliche Vernichtung aller Rebellen.

Die Armeeführung wird ihm darin zustimmen. Doch ein Krieg gegen höchst mobile Kampfeinheiten des Gegners, wie es die Blitzeinnahme Grosnys durch tschetschenische Kämpfer Anfang März bewies, läßt sich nicht gewinnen. Überall dort, wo Artillerie und Luftbombardement nichts bewirken, steckt die russische Armee eine Erniedrigung nach der anderen ein. Vergeltungsschläge wie die auf Samaschki sind die logische Konsequenz. Eine ähnliche Dynamik ging auch dem Rückzug der sowjetischen Armee aus Afghanistan voraus.

Längerfristig ist ein Abzug unausweichlich. Die russischen Truppen befinden sich in einem alarmierenden Zustand: Auf jeden von Tschetschenen getöteten russischen Soldaten kommen fünf, die bei Unfällen oder Schießereien untereinander ums Leben kamen. Alkohol und Drogen zerfressen Offiziers- und Mannschaftsgrade. Die Zeitung Moskowskije Nowostij berichtete von einer Preisliste, wonach sich russische Einheiten gegen eine Gebühr von 20.000 bis 40.000 US-Dollar von strategischen Punkten zurückziehen. Der tschetschenische Freischärler Ruslan Gilajew, Kommandeur der spektakulären Aktion in Grosny, gab an, vorher mit den Wachposten verhandelt zu haben. „Wir schlossen einen gegenseitigen Nichtangriffspakt“, offenbarte er. Die Hälfte der russischen Posten machte mit, „und wir konnten ruhig aktiv werden“. Anders als die Russen führen die Tschetschenen keinen Eroberungskrieg – sie suchen nach propagandistischen Erfolgen. Und es gelingt immer wieder.