Umstrittene These -betr.: "Ist Bremen zu retten? Nur mit Psychologie", taz vom 23.3.1996

Betr.: „Ist Bremen zu retten? Nur mit Psychologie“, taz vom 23.3.

Das Interview mit Christian Weber wird mit der Bemerkung eingeleitet, die Sozialgeographen hätten festgestellt, daß sich innerhalb von 17 Jahren die Hälfte der (Bremer) Bevölkerung ausgetauscht habe. Diese Aussage ist in erster Linie eine Behauptung von Prof. Bahrenberg (Uni HB), für die es nur sehr vage empirische Anhaltspunkte gibt. Bevor sie als gesichertes Allgemeinwissen in die Diskussion um eine Bremer Identität und die damit verbundene Selbständigkeitsdebatte eingeht, möchte ich dazu kurz Folgendes anmerken:

Als Fakten sind lediglich die Zahlen der Umzüge über die Stadtgrenze Bremens bekannt. Danach wurden in der Zeit von 1978 bis 1994 bei einer durchschnittlichen Einwohnerzahl Bremens von 545.000 insgesamt 386.000 Fortzüge aus der Stadt und 397.000 Zuzüge in die Stadt Bremen gezählt (genauer: Ummeldungen von Wohnsitzen). Nebenbei bemerkt: Hannover weist im selben Zeitraum jeweils ca. 100.000 Zu- und Fortzüge mehr auf. Wenn man die Umlandwanderung von den genannten Zahlen abzieht, dann liegen die Zu- und Fortzüge jeweils etwa in der Größenordnung der Hälfte der Einwohnerzahl Bremens.

Bahrenberg deutet diese Zahlen als „Austausch“ der Bevölkerung, was jedoch fragwürdig ist. Die Zahlen lassen nämlich keine Rückschlüsse darauf zu, wie groß der Anteil der Bevölkerung ist, der in den 17 Jahren nicht über Bremens Stadtgrenze umgezogen ist.

Einige Beispiele, wie die erstaunlich hohen Umzugszahlen auch noch zustande gekommen sein könnten: In 17 Jahren kann eine Person mehrmals über die Stadtgrenze ziehen. Auch könnte theoretisch eine Mehrheit der Bevölkerung „Ur-Bremer“ sein (nicht über die Stadtgrenze gezogen), und die Zu- und Fortzüge gehen auf Personen zurück, die dann nur jeweils sehr kurz in der Stadt gewohnt haben.

Wenn man die Frage einer Bremer Identität unbedingt mit Hilfe der Verweildauer ihrer Einwohner beantworten will (was ich für unzureichend halte), dann müßten diese Daten erst einmal verfügbar gemacht werden.

Mit der These vom Austausch der Bevölkerung läuft die Diskussion jedenfalls sehr leicht in die falsche Richtung. Man kann sich leicht etliche Beispiele ausdenken, wie es trotz großer Mobilitat eine Bremer Identität gibt: Schließlich wird jemand, der in Bremen geboren wurde, seine Ausbildung aber außerhalb Bremens absolviert und dann wieder zurückkehrt, nicht seine bremische Identität verloren haben (wenn es sie gibt/gab). Genausowenig Sinn wird wohl auch eine Diskussion darüber machen, ab welchem Anteil „Ur-Bremer“ an der bremischen Bevölkerung es eine Bremer Identität gibt usw.

Michael Neutze