Der Schmerz der Dissonanz

■ Schubert, Mozart, Schnebel: ein krauses Programm der Kammerphilharmonie mit hervorragenden Interpreten

Der Komponist Dieter Schnebel hat über Franz Schuberts späte B-Dur-Sonate einen der besten und schönsten Schubert-Aufsätze geschrieben, mit einem Verständnis, das vielleicht nur der Komponist, nie der Theoretiker aufbringen kann. Und er hat sich mit der Schubert-Phantasie 1977 dem großen Frühromantiker auch kompositorisch genähert. Er „instrumentierte“ den ersten Satz der Klaviersonate in G-Dur, womit er „das innere Leben erschließen und zugleich seine Entfaltung nach außen ins Räumliche ermöglichen“ will. Das Streicherfundament ließ er mit dem Titel „Blendwerk“ als eigene Komposition gelten, was eher einen geschäftstüchtigen Eindruck macht. Wie dem auch sei, mit „Blendwerk“ eröffnete nun die Kammerphilharmonie unter der Leitung von Thomas Hengelbrock ihr jüngstes, gut besuchtes Abonnementkonzert.

Mit außerordentlicher Einfühlungskraft gestaltete Hengelbrock den irisierenden Klangteppich, in dem immer wieder – fast ungreifbar – Schubert'sche Harmonien auftauchen, wie in einem Traum wieder verschwinden, kaum waren sie da. Zusammen mit Motivpartikeln gerät die sich wie ein Vexierbild bewegende Fläche zu einer aufregenden Interpretation der Schubert'schen Bewegung. So sinnvoll es war, ohne Unterbrechung die Wiedergabe von Schuberts Scherzos aus dem Sinfonischen Fragment in D-Dur anzuschließen, so wenig konnte das darüber hinwegtäuschen, daß es hier eben keinen Zusammenhang gab. Schade, warum nicht die Klaviersonate, auf die sich das „Blendwerk“ bezieht?

Gut wurden in diesem von Peter Gülke instrumentierten Scherzo Kontraste herausgearbeitet: Hengelbrock besitzt eine überzeugende Handschrift von harmonischen und rhythmischen Spannungen.

Über die Programmkonzeptionen der Kammerphilharmonie kann man schon gelegentlich ins Staunen kommen. Konnten wir uns mit Schnebel und Schubert in ein bestimmtes Gedankengebäude begeben, das eigentlich nach Weiterführung verlangte, mußten wir mit zwei Arien von Joseph Haydn und Mozart eine Kehrtwendung machen und uns in die Welt des Mythos mit seinen dramatischen Affekten versenken. Die überragend singende Dorothea Röschmann machte diese eher schwierige Aufgabe leicht. Enorm, mit welcher Präsenz sie sozusagen aus dem Stand die Verzweiflung und die Liebe der Euridice (Konzert-Arie von Haydn) zu gestalten wußte. Die riesigen gesangstechnischen Anforderungen wiederholten sich für die Konzert-Arie „Bella mia fiamma“ von Mozart, die in der Allgemeinen musikalischen Zeitung von 1815 eine „wahrhaft große Szene und Arie“ genannt wurde. Groß (und begeistert applaudiert) ließ die junge Sängerin Verzweiflung und Todesbereitschaft auch hier entstehen. Die farbenreiche lyrische Substanz ihrer hochdramatischen Stimme läßt sie als eine ideale Mozart-Interpretin erkennen.

Aber so ein krauses Konzert muß ja auch einen Abschluß haben. Mozarts Jupitersinfonie ist immer richtig. Was schon in der Begleitung der Arien auffiel, arbeitete das wieder sichtlich engagiert und begeistert spielende Orchester besonders heraus: Hengelbrock hat ein Faible für die „Frechheiten“ der Komposition, die Normverletzungen. Da hört man nie so gestaltete Farben, da erklingen abgespaltene Motive, die sonst in Linien gezwungen werden, da schmerzt eine Dissonanz noch heute: ein Feuerwerk von kompositorischen Ideen innerhalb der Strenge der Form.

Ute Schalz-Laurenze