Heimbewohner

Kurzer Besuch einer Anstalt  ■ Von Gabriele Goettle

Neben dem Kastanienbaum, unter dem wir seit einer Weile sitzen, spaziert ein alter Mann in gebeugter Haltung auf und ab, ohne uns aus den Augen zu lassen. Ein anderer Mann erhebt sich von der Bank unter dem Nußbaum und ruft mehrmals: „Reinecke Fuchs!“ Er ruft wie ein Urwaldvogel, klar, akzentuiert, mit rollendem R und geübter Stimmkraft. Nach einer Pause und wenigen Schritten variiert er: „Reinecke der Fuchs ..., Honecker der Hahn!! Aufstehn, der Hahn hat gekräht!“ Fast wäre er über einen jungen Mann gefallen, der auf allen Vieren eilig unter einem der Tische hervorkam, wo er offensichtlich Kastanien aufgesammelt hatte. Der junge Mann erhebt sich, tritt vor eine gedankenversunken wirkenden Pfeifenraucher, will ihm alle seine Kastanien übergeben. Der aber zieht nach kurzem Irrtum die Hand zurück und sagt: „Was soll ich damit, bin ich ein Schaf?“ Woraufhin der Abgewiesene ein klägliches Mähen hervorstößt und die verschmähte Gabe gekränkt zu Boden schleudert. Der Pfeifenraucher wendet sich ab und bläst ungerührt eine Wolke aus seinem Mundwinkel.

Zwei Männer nähern sich rennend, einer verfolgt den anderen. Der Gejagte kichert und sieht sich mit gerötetem Gesicht nach dem Verfolger um, der fuchtelt drohend mit den langen Armen und kommandiert: „Hackfleisch, Hackfleisch, los, los, vorwärts!“ Schon sind sie keuchend hinter dem Haus verschwunden. Etwas abseits, allein auf seiner Bank, sitzt einer, der aussieht wie der ältere Karl Kraus. Mit übergeschlagenen Beinen betrachtet er das Treiben, erhebt sich kopfschüttelnd, setzt eine schwarze Baseballmütze auf und schlurft davon. Vom Haus her ertönt ein Ruf. Nach und nach wird es leer auf den Bänken, die Männer gehen ohne Eile zum Mittagessen. Einer jedoch bleibt zurück. Er nimmt nach einigem Zögern neben uns Platz und sagt: „Heute gibt es Krautroulade, die schmeckt gut ... mir aber nicht so. Wo kommen Sie denn her?“ Nach Berlin, sagt er, da möchten alle mal hin. Er war nur in Quedlinburg, ist sonst ganz zufrieden, nur schade, daß keine Tiere mehr da sind, die gab's früher, jetzt sind sie alle nach dem Marienhof gebracht worden. Ein Schwimmbad gibt es, das Schwimmbadfest war im April, Reiterspiele sind verboten, mit dem Taschengeld geht alles klar, hundert Mark hat er als Hausarbeiter. Auf meine Frage, was sich geändert hat, seit es die DDR nicht mehr gibt, denkt er lange nach und kommt zu dem Schluß: „Die Briefmarken ... und das Geld, sonst dasselbe.“

Neinstedt liegt am Rande des östlichen Harzes. Meyers großes Konversationslexikon von 1906 gibt in der damals noch gebräuchlichen Unverblümtheit Auskunft:

Neinstedt, Dorf im preuß. Regbez. Magdeburg, Kreis Quedlinburg, an der Bode und der Staatsbahnlinie Wegeleben-Thale, hat eine schöne neue Anstalts- und eine evang. Kirche, eine Blödsinnigenanstalt (Elisabethstift) mit Asyl (Gottessorge), eine Rettungsanstalt (Lindenhof) für verwahrloste Kinder, eine Ziegelei und (1905) 2.180 Einw., davon 87 Katholiken. Zu den Neinstedter Anstalten gehören noch die Filialen Kreuzhilfe in Detzel bei Neuhaldensleben und Kreuzhilfe und Gnadenthal in Thale am Harz, die erstern für Blödsinnige, letztere für Epileptische.

Rasante Industrialisierung und Akkumulation des Kapitals erzeugten eine sprunghafte Zunahme von Geisteskrankheiten und sozialen Härtefällen, denen wiederum eine sprunghafte Vergrößerung des Anstaltswesens folgte. Der Gründer der Neinstedter Anstalten, christlicher Unternehmer und Rittergutsbesitzer, orientierte sich am sog. Rauhen Haus (einer von Wichern gegründeten Anstalt für „innere Mission“, die der „Rettung sittlich gefährdeter Knaben“ diente und zugleich zur Ausbildung von Rettern, jungen Männer, „die sich dem Erzieherberuf, einer Stadtmission, Arbeiterkolonie oder dem Dienst an Korrektions-, Straf- und Krankenanstalten widmen wollen“, auch Brüder genannt, später Diakone). In einem aktuellen Faltblatt der Neinstedter Anstalten findet sich folgende Kurzinformation:

Geschichtliche Daten:

1850: Gründung des „Knabenrettungs- und Brüderhauses“ auf dem Lindenhof durch Marie und Philipp Nathusius

1861: Beginn der Arbeit mit Menschen mit einer geistigen Behinderung im „Elisabethstift“ durch Johannes Nathusius (Schwester des Gründers)

1886: Bau der Lindenhofskirche, Gründung der Anstaltskirchengemeinde

1906: Bau des Johannenhofes

1935 leben in den Neinstedter Anstalten 770 Menschen mit einer geistigen Behinderung und 180 Jungen in der Fürsorgeerziehung

1940: Behinderte Heimbewohner werden in staatliche Einrichtungen verlegt (Euthanasie-Aktion des NS-Staates), danach Fremdbelegung der Häuser (u. a. Lazarett)

1953: Kurzzeitige Verstaatlichung der Einrichtung

1982 bis 1986: Bau der Osterbergsiedlung

1993: Grundsteinlegung neue Werkstatt f. Behinderte

Zum dunkelsten Punkt in der Anstaltsgeschichte gibt es (neben diversen und kontroversen Versuchen der „Aufarbeitung“) ein schneeweißes Denkmal aus Carraramarmor mit der unglaublichen Aufschrift: „Was schwach ist vor der Welt, das hat Gott gewählt – den Opfern der Euthanasie.“ Diese Entlehnung aus der Bibel wirkt geradezu hinterhältig, denn es waren bekanntermaßen SS-Ärzte, die gewählt und selektiert haben. 1993 wurde das Denkmal eingeweiht.

Rund 640 Männer, Frauen und auch einige Kinder leben in 23 verschiedenen Häusern unter der Obhut von etwa 290 Mitarbeitern des Pflegebereichs. Etwas mehr als die Hälfte der Erwachsenen arbeitet in anstaltseigenen Werkstätten, Fremdbetrieben oder Haus- und Küchendiensten. Zu den Anstalten gehören eine Sonderschule, ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie sowie eine Lungenklinik (in Ballenstedt), ein Brüderhaus zur Ausbildung von Diakonen und eine Erzieherfachschule. Es gibt eine anstaltseigene Landwirtschaft, Gärtnerei und Bäckerei, letztere wird auch von den Bewohnern des Ortes täglich frequentiert. Das Gelände ist frei zugänglich, ebenso bewegen sich die Anstaltsbewohner, allein oder in Gruppen, ungezwungen im Ort. Es gibt weder Mauer noch Pforte, ein schmaler Bach bildet die natürliche Grenze. Wir gehen an der Bäckerei vorbei über die Brücke, das eiserne Geländer hat einen dunklen seidigen Glanz angenommen von den zahllosen Berührungen der Hände. Auf dem Weg ins Zentrum befragen wir zwei ältere Frauen, die plaudernd auf der Straße stehen.

A: „Einwohner? Na, so um 2.500, die Anstalt nicht mitgerechnet. Mit den Behinderten? Kein Problem! Die tun uns nichts, wir tun denen nichts.“

B: „Im Gegenteil, ich hab die richtig gern ... so freundlich, alles, da kommen unsre nicht mit, das geht nur immer: ,Guten Tag‘, ,Schönes Wochenende‘, so freundlich sind die.“

A: „Ja, die meisten haben ein gutes Wesen, zu DDR-Zeiten waren sie noch mehr unterwegs, haben ja gearbeitet in den Betrieben und auch viel geholfen hier bei den

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Leuten, überall. Es war offener als heute. Na ja ...“

B: „Man kann sagen, wir sind hier so groß geworden damit, schon immer waren die da, wir fanden gar nichts dabei, nicht?“

Ein etwa zehnjähriges Mädchen zur Frage, ob es Kontakt zur Anstalt hat, mit den Kindern spielt: „Meine Mutter arbeitet da, deshalb bin ich manchmal dort ... aber spielen tun wir mit den behinderten Kindern nie, weil, die können ja fast alles nicht ... Und dann dürfen sie ja auch nicht so raus, manche.“

Der Wirt in der Kneipe gibt freundlich Auskunft: „Gäste aus der Anstalt? Ja, die kommen, die kommen viel hierher. Doch, das klappt mit denen, man kennt die teilweise ja schon lange und weiß auch, wie sie einzuschätzen sind – intelligenzmäßig, meine ich jetzt mal. Also, wenn einer von den Starken kommt und will ein Bier, dann kriegt der sein Bier: Ich meine ein richtiges! Wenn ein Schwacher kommt und will ein Bier, dann kriegt er halb Bier, halb Limo, damit ist der zufrieden. So ist es abgesprochen mit der Anstalt.“

Ein Rentnerehepaar sitzt auf einer Bank an der Hauptstraße. Wir setzen uns dazu.

Frau: „Wie viele Einwohner? Da fragen Sie mich zuviel. Ich bin nicht von hier, ich bin erst '46 aus Schlesien gekommen ...“

Mann: „Aus Breslau.“

Frau: „Schön war's da gewesen, aber nu isses nicht mehr schön, es verfällt!“

Mann: „Der Pole ist von Natur aus faul, dem ist das wurscht.“

Frau: „Aber nu ham wir uns hier eingelebt und bleiben hier, aber wieviel Einwohner ... vielleicht drei- bis viertausend, schätze ich mal, die Anstalt mit dabei.“

Mann: „Das könnte hinkommen.“

Eine Schwester, mit zwei mongoloiden, etwa 14jährigen Knaben kommt vorbei. Die Jungs tragen kleine Rucksäcke und halten sich an den Händen, die Schwester trägt einen sehr großen, schweren Rucksack.

Frau: „Sie machen Urlaub. Denen geht's ja jetzt noch viel besser wie vorher, ja, sogar besser wie unsereinem, die fahr'n heut' sogar ins Ausland!“

Mann: „Überall machen die Urlaub, heutzutage.“

Frau: „Auch zu DDR-Zeiten waren die viel unterwegs, nur halt nicht im Ausland selbstverständlich, dafür Ostsee, alles! Aber die haben es ja auch nicht so schön im Leben wie manch anderer. Und eins muß man sagen, dankbar sind sie, dankbarer wie die Jugend vom Ort. Und immer nett und ordentlich, die grüßen und sind freundlich.“

Mann: „Nicht so wie der Bengel da!“

Frau: „Ja, der Enkel vom Pfarrer, was glauben Sie, was der zu mir gesagt hat? Man mag das gar nicht wiederholen: ,Halt's Maul, kannst ja nicht mal mehr ficken, alte Votze!‘ Genau das hat er mir nachgerufen, der Enkel vom Pfarrer!!“

Mann: „Wo der nur die Ausdrücke her hat? Denen geht's allen zu gut!“

Frau: „Der hat mehr Taschengeld wie ich Rente. Da sind mir die von der Anstalt wirklich viel lieber. Die haben Achtung vor dem Alter, denn, sehnse, nächstes Jahr haben wir goldene Hochzeit, so lange sind wir nu schon verheiratet. Und nur weil mein Mann mir das Leben gerettet hat – erzähl's doch der jungen Frau, das erzählst du doch so gern!“

Mann: „Das war also Januar '45, ich bin so dahingegangen auf der Straße, rechts und links war meterhoch der Schnee aufgeschaufelt, da kommt sie mir entgegen, zwei volle Einkaufstaschen, eine rechts, eine links. Da seh ich sie hinten am Horizont auftauchen, Tiefflieger im Anflug! Ich ruf ihr zu: Aufgepaßt! Aber sie geht ruhig weiter mit ihren Taschen, ich ruf: Tiefflieger! Nichts! Da seh ich schon, wie der Ami die Nase senkt und: Ratatatatata ... Mit einem Sprung war ich bei ihr – das war ungefähr so weit wie von hier bis zur Telefonzelle –, werf sie um, mitsamt ihren Taschen, ich obenauf.“

Frau: „Hinterher haben wir so Munition gefunden im Schnee, da wo ich grade noch war.“

Zurück in der Anstalt haben wir einen Termin mit dem Leiter der Werkstätten. Bereitwillig gibt er Auskunft und zeigt uns die einzelnen Arbeiten. Zuerst eine Metallwerkstatt im Keller, hier werden sowohl Fahrräder der örtlichen Post repariert als auch Industrieaufträge ausgeführt (beispielsweise sind Halterungen an Servierwagenrädchen zu montieren). Es werden hier Stückpreise vereinbart, keine Stundenlöhne. Die Arbeitenden erhalten monatlich zwischen 50 und 60 Mark, maximal 100 Mark. Im Parterre des Hauses liegen die anderen Arbeitsräume, sie sind sehr eng und schlecht belüftet (inzwischen ist man in die neue Werkstatt umgezogen). Die Arbeitenden – Männer und Frauen, meist mittleren Alters – sitzen an zusammengeschobenen Tischen über meist stumpfsinnigen Arbeiten. Eine Grupe füllt Wundertüten, eine andere stapelt Plastikgefäße für Tiefkühlkräuter. Wir werden neugierig betrachtet, auch nach dem Woher und Wohin gefragt. In einem großen Raum werden die kreativen Arbeiten verrichtet, hier ist auch gleich die Stimmung heiter. Schafwolle (die man geschenkt bekommt) wird aufgerissen, zerzupft und entweder am Spinnrad gesponnen oder für die Filzverarbeitung vorbereitet. Lederjacken (aus Spendensäcken) werden zerschnitten, Teile herausgestanzt, die zusammengenähten Segmente nachher zu schönen Lederbällen. Eine zierliche alte Frau häkelt akkurate Topflappen, eine andere Hüttenschuhe aus Schafswolle. Die Frau am Spinnrad erzählt, sie sei schon 36 Jahre hier. Viel älter ist sie nicht. Im Nebenraum wird Grassamen aus alten Tüten in neue Tüten gefüllt. Der Werkstattleiter ist weggerufen worden, so daß ich nicht nach dem Grund fragen kann. Ein Mann, der es den ganzen Tag tut, weiß zwar auch nicht warum, reicht mir aber eine der ungeöffneten Tüten. Der Vorgang klärt sich, das Verfallsdatum vom „Qualitäts-Grassamen mit Wildblumen- und Kräuterwiese“ ist weit überschritten.

Im nächsten Raum werden grellfarbene Partystäbchen aus Plastik zum Eintüten sortiert, gezählt und abgepackt. Als Zählhilfe dient ein Brettchen mit Löchern. Steckt in jedem Loch ein Stäbchen, so ergeben zwei Brettchen voll eine vorschriftsmäßige Tütenfüllung. Auch ein Blinder tastet sich von Loch zu Loch, kein Stäbchen darf fehlen, es müssen genau 50 sein. Die hier Arbeitenden sind allesamt „werkstattfähig“, wie es im Fachjargon heißt. Paragraph 5 des Schwerbehindertengesetzes definiert sie als Behinderte, die „in der Lage sind, ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen“. Niemand von den Betroffenen hier wäre in der Lage, einen derart bedrohlichen Unterton anzuschlagen, so monströs wirkt nur der Bürokrat, der ein Höchstmaß an Verwaltung und Erfassung erbringt. Von alledem weiß der schlanke grauhaarige Mann nichts. Er trägt eine ramponierte Mundorgel unter dem Arm und legt der Betreuerin lächelnd seine Hand auf die Schulter. „Was gibt's?“ fragt sie. „Grüne, grüne ...“, ruft er dringlich. Sie nimmt ihn an die Hand und sagt beschwichtigend: „Nu, dann holen wir uns zusammen die Grünen, siehste, dort stehn sie doch.“ Er hält ein Schälchen mit grünen Partystäbchen in der Hand, ist sichtlich erleichtert und betrachtet mich scheu. Gleich senkt er die blauen Augen, blickt auf den Boden. „Das ist unser Helmut“, erklärt die Betreuerin und streicht ihm über die Wange, „mit ihm zusammen bin ich alt geworden, denkense mal, am 14. Oktober bin ich 25 Jahre hier. Wie alt wirst du jetzt, Helmut?“ Er antwortet nicht, lächelt nur zu seinen Schuhen hinab. „Er ist auch schon Ende 50, in meinem Alter so. Sein Bruder ist 60 geworden. Seine Eltern, das waren ja die berühmten Nordpolforscher S., sehr bekannte Persönlichkeiten waren das damals. Der Vater ist bei einer Nordpolexpedition ums Leben gekommen. Die Mutter hatte viele Bücher geschrieben. Die wohnte in Westdeutschland, und all die Jahre, zu DDR-Zeiten müssen Sie denken, da haben die beiden Brüder Riesenpakete bekommen, jedes Weihnachten, jedes Ostern, jeden Geburtstag, und jeder das gleiche! Hier, das ist so eine Erinnerung“, sie deutet auf die Mundorgel, „die gibt er nicht aus der Hand, nie! Ich weiß es lediglich vom Erzählen, aber das alles soll gekommen sein, bei den beiden Jungs, durch das Blei in den Konservenbüchsen. Nur durch das Blei! Die Eltern haben ja da im ewigen Eis immerzu Konserven gegessen, monatelang.“

Als letztes sehen wir die Keramikwerkstatt. In den Regalen stehen gebrannte und glasierte Hasen, Hennen und Aschenbecher und Kerzenständer, dazwischen viele seltsame Wesen und Formen, die frei modelliert sind. Eine Frau im Rollstuhl, klein und verwachsen, beugt sich über den Tisch und arbeitet angestrengt an einem Figürchen. Im Regal stehen fertige Sachen von ihr, eine winzige dicke Königin mit weit auseinanderstehenden Augen und auch ein Hahn, der sehr derb ist und doch wunderbar erwischt wirkt; er hat dieses Emsige, diesen Drang des Schnabels zum Boden beim Picken, voller Bedacht, den Rücken emporzurecken und den Federschwanz würdig zu präsentieren. Auch ein mongoloider junger Mann macht sehr erfindungsreiche lebhafte Kleinfiguren, allesamt aus übereinandergelegten, leicht gebogenen und geformten Tonscheibchen, manche haben Brüste. In derselben Manier macht er auch Frösche und Schildkröten. Als ich mich für seine Arbeiten interessiere, flieht er vor mir. Die Betreuerin erklärt: „Der ist sowas von sensibel, momentan, er hat eine Schuppenflechte am ganzen Körper und schämt sich, besonders vor Frauen. Ich glaube, er hat ein bißchen Liebeskummer.“ Sexualität, so erfahren wir, „wird keineswegs ignoriert, Beziehungen sind gestattet. Ende der siebziger Jahr schlugen die Wellen hoch, als das erste Paar Hand in Hand übers Gelände ging. Der Leitungsrat hat stundenlang getagt. Danach war Behindertensexualität ein Thema bei uns. Wenn aber so ein Paar dann wirklich Ernst machen will, dann gibt's natürlich die entsprechenden organisatorischen und sonstigen Probleme.“ Wir fragen nicht genauer nach.

Manchmal passieren solche Dinge, man zieht an einem Grashalm und löst einen Erdrutsch aus. Eher zufällig bekamen wir die Akte eines Euthanasieopfers zu Gesicht. Sie ist ein Fundstück und befindet sich im Besitz eines Diakons. Die Geschichte dieses Fundstücks ist folgende: Im ehemaligen Bücherturm des Anstaltsgründers wurde Raum gebraucht für die neue Telefonanlage, deshalb kamen die alten Patientenakten zur Gänze raus und sollten weggeworfen werden. Eine Gruppe von Behinderten nahm die Akten auseinander, trennte Papier, Metall und Pappe. Als sie fast schon fertig waren, fiel dem Diakon zufällig ein Dokument mit Hakenkreuz ins Auge, er nahm es an sich und genaueres Studium ergab, daß es sich um die Akte eines Euthanasieopfers handeln mußte. Er vermutete, daß die bereits vernichteten Akten ebenfalls Akten von Euthanasieopfern waren. Anfrage des Diakons: Warum wurden die Akten vernichtet? Antwort: Akten sind 30 Jahre aufzubewahren, nicht länger. Weder ein Brief an den damaligen Anstaltsleiter noch weitere Anfragen und Leserbriefe ans anstaltseigene Info „Lindenblatt“ führten dazu, daß irgend jemand die Akte hätte sehen wollen. Kein Interesse. Zwar fand 1989 eine Tagung mit dem Thema „Eugenik und Euthanasie im sog. III. Reich“ in den Lobethaler Anstalten statt (noch bevor Honecker dort Asyl gewährt wurde), auf der auch Neinstedt mit einem Vortrag vertreten war, das Thema geriet aber gleich wieder in Vergessenheit. 1990 oder 1991 sei, so der Diakon, beim Diakonenbrüdertag zum erstenmal die Euthanasie thematisiert worden. Zur Einweihung des Euthanasiedenkmals 1993 wurde ein zehnseitiges Heftchen fertiggestellt von der Anstaltsleitung, in dem einige wenige Fakten und Daten direkt zur Anstaltsgeschichte zu finden sind, zum Beispiel: „Anhand der oben erwähnten ,Pfleglingsliste‘ hat Bruder Werner Krause festgestellt, daß in jenen Jahren aus unseren Neinstedter Anstalten 744 HeimbewohnerInnen in andere Anstalten (zumeist Altscherbitz) verlegt wurden. Wir müssen tiefbetroffen annehmen, daß sie alle umkamen.“

Bruder Krause ist Archivar der Anstalt, er ist gerade im Begriff nach Hause zu gehen, wird von der Gattin abgeholt. Als er hört, was ich wissen will, ist er sofort mißtrauisch und bis zur Unhöflichkeit abweisend: „Soll das so eine Art von Verhör werden? Ich hatte schon mal mit einer Kollegin von Ihnen schlechte Erfahrungen gemacht, noch zur Kommunistenzeit, da bin ich vorsichtig. Außerdem kann ich Ihnen gar nichts weiter sagen, als das, was Sie in der Broschüre auch nachlesen können, mehr Unterlagen gibt es nicht, ich kenne auch keinen, der dazu was Genaueres sagen könnte. Die meisten gingen nach Altscherbitz, über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Am besten Sie fahren nach Altscherbitz – oder gleich nach Bernburg – und fragen dort: 1. Wo kamen sie her? 2. Wo gingen sie hin? Und daß bei uns Akten in den Altstoff kamen, davon weiß ich nur vom Hörensagen, da müßte ich diese Akten erst mal sehen, ich habe keine einzige dieser angeblichen Euthanasieakten bisher zu sehen bekommen, mir ist das alles, offen gesagt, unerklärlich. Die Pfleglingsliste kann ich Ihnen leider auch nicht zeigen, da stehn nur Namen drin, das nutzt Ihnen gar nichts, und ob die Anstalt Namen so ohne weiteres rausgeben dürfte, das weiß ich nicht ...“

Die Akte zeigt in bürokratischer Kürze die behördenmäßige Erfassung der Existenz von Gerhard Schipelius, geboren am 18. September 1918 in der Nähe von Bitterfeld. Der Personalbogen und das erste ärztliche Gutachten für die Einweisung ist in schnörkelreichen Schriftzügen und mit der Feder ausgefüllt. Seine Aufnahme in die Neinstedter Anstalten (Kreuzhilfe-Thale) ist mit dem 18. Januar 1923 datiert. Das Gutachten ist relativ detailliert und wurde über das dreijährige Kind abgegeben, das offenbar unter Epilepsie litt. Zur Frage der familiären Disposition vermerkte der Kreisarzt: „Der Vater ist hochgradiger Neurastheniker, die Mutter hatte im letzten Jahr vielfach nervöse Störungen. Die Schwester (des Vaters, GG) befindet sich in einer Irrenanstalt in Berlin, der Schwager (Ehemann der obigen, GG) ist an Gehirnerweichung gestorben.“

Zwölf Jahre später, im März 1934, übersendet Neinstedt an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Genealogie und Demographie in München mit einem zackigen „Heil Hitler!“ Antwort auf eine Umfrage in Form einer „Ärztlichen Äußerung“, datiert auf den 12. 3. 34. Darin heißt es über Gerhard Schipelius: „Er leidet an tuberöser Sklerose. Der Vater des Kranken (...) ist ,hochgradiger Neurastheniker‘, die Mutter Ida, geb. Rümmler, litt vielfach an ,nervösen Störungen‘. Die Schwester des Vaters befindet sich in einer Irrenanstalt in Berlin, der Ehemannn derselben ist an ,Gehirnerweichung‘ gestorben.“ Der Anstaltsarzt, ein Sanitätsrat, hat sich fast wortgleich aus dem Gutachten über den Dreijährigen bedient. Lediglich die „tuberöse Sklerose“ ist neu und mußte das Interesse des Instituts erregen. Institutsdirektor Prof. Rüdin bittet am 11. Juli persönlich um die Kranken- und Personalakte von Schipelius. Die Akte wird hin- und nicht zurückge

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schickt, so daß sie sogar angemahnt werden muß bei Rüdin und dieser die Rücksendung persönlich bestätigt, wobei er, nebenbei bemerkt, mit „Hochachtungsvoll“ grüßt. Erst in einem Schreiben von 1937 grüßt er mit „Heil Hitler!“. In diesem Schreiben äußert Rüdin sein „großes Interesse“ am Patienten Schipelius, dessen Krankenblätter man ihm liebenswürdigerweise zur Verfügung stellte, er habe nun noch eine große Bitte: „1. daß Sie uns im Falle der Verlegung und im Falle des Ablebens des Patienten in Kenntnis setzen; 2. daß Sie in letzterem Falle nach Möglichkeit eine Sektion erwirken und Gehirn und Rückenmark sowie einen möglichst eingehenden Sektionsbericht an Herrn Dr. Hallervorden, Brandenburgische Landesanstalt Potsdam, Prosektur, schicken.“ Beigefügt ist ein Merkblatt, das „an übersichtliecher Stelle“ den Akten beizulegen ist.

Das Merkblatt liegt bei. Ansonsten enthält die Akte Journalbögen, die Jahr für Jahr die Anzahl der täglichen und monatlichen Anfälle enthalten, und Karten der Mutter, mit der Feder geschrieben, auf denen sie eine „Schwester Elisabeth Hochwohlgeb.“ um Urlaub für den Knaben bittet, was regelmäßig geschieht. Eine ganze Anzahl von Urlaubsbescheinigungen des „Pfleglings“ und auch eine Wehruntauglichkeitserklärung für den Dienstpflichtigen sind abgeheftet. Abgeheftet ist auch ein Bogen, der die Entlassung von Gerhard Schipelius in die Landesheilanstalt Jerichow am 30. 9. 1938 vermerkt mit dem handschriftlichen Zusatz des damaligen Sekretärs der Anstalt, Bruder Moldenhauer, daß die Entlassung nach München und an Dr. Hallervorden, Potsdam, gemeldet wurde am 1. 10. 1938. Die beiden letzten Blätter in der Akte kommen von der Prosektur der Brandenburgischen Landesanstalten. Herr Dr. Eicke bittet um eine kurzfristige Überlassung „der Krankengeschichte und der gesamten Aktenvorgänge des Patienten“ am 14. 10. 38 und sendet am 20. Oktober die Akten zurück. Damit schließt die Akte.

Die Euthanasieaktionen begannen offiziell erst ein Jahr später, aber interne Vorbereitungen (Debatte, Erfassung, Strukturierung) liefen schon seit mindestens 1935. 1936/37 gab es bereits Verlegungen aus kirchlichen in staatliche Anstalten. Mit der Anwendung des Sterilisationsgesetzes (ab 1934) sammelte man wertvolle Erfahrungen der bürokratischen und rechtlichen Bewältigung solcher Aufgaben. Gerhard Schipelius jedenfalls hat keine weiteren Spuren hinterlassen. Auf eine Anfrage in der Gedenkstätte des Landeskrankenhauses Bernburg (im dortigen Computer sind alle erreichbar gewesenen Namen der dort Ermordeten erfaßt) bekam ich folgendes Fax: „Die gesuchte Person aus Neinstedt über Jerichow ist in den hier vorhandenen Unterlagen nicht nachweisbar.“

Nachweisbar ist aber die weitere Tätigkeit von Prof. Dr. Rüdin (bereits 1903 hatte er die Sterilisierung von Alkoholikern gefordert); er war NS-Reichskomm. f. d. deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene und feuriger Verfechter der Euthanasie. Prof. Hallervorden wechselte an das Kaiser-Wilhelm-Institut für Gehirnforschung in Berlin über und geht in die Geschichte der Euthanasiemorde ein durch eine Unmenge von bestellten Gehirnen, die er sich direkt aus der Todesmaschinerie zustellen ließ von der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaft“. Herr Dr. Eicke, Nachfolger Hallervordens in der Brandenburger Prosektur, ist zugleich sein enger Mitarbeiter und Zuarbeiter.