Die Gentlemen bitten zur Urne

Siziliens „ehrenwerte Gesellschaft“ ist hin und her gerissen, wen sie bei den Wahlen am 21.April unterstützen soll: Neofaschisten, Berlusconi, Dini? Eine halbe Million Stimmen sind zu vergeben  ■ Aus Agrigent Werner Raith

Für gewöhnlich sitzt der Alte im hintersten Winkel des Textilgeschäfts, das seine Frau und zwei Töchter in der Via Roma im sizilianischen Agrigent führen; gestützt auf einen klobigen Spazierstock, einen Mantel über die Schultern geworfen, erweckt er den Eindruck eines Opas, der langsam seinem Lebensende entgegengeht. Ab und zu kommen junge Männer herein, werfen einen fragenden Blick auf die alte Frau. Sie hebt die Schultern, breitet die Hände aus, nickt fast unmerklich: Zeichen, daß man sich ihrem Gemahl annähern darf; ehrerbietig schallt dann ein „Mi consenta, Don Tano“ durch den Raum: Gestatten Sie, Don Tano. Die Unterhaltungen sind meist nur wenige Minuten lang und werden sehr leise geführt, am Ende hält der Alte dem Besucher die Hand hin, die dieser nicht selten sogar küßt. „Vabbon“, sagt der Alte, die Audienz ist damit beendet.

Diesmal aber ist Don Tano ganz anders. Schon beim Eintreten winkt er mir mit beiden Händen zu: „Venga, venga, kommen Sie.“ Ein Blick verscheucht seine Tochter: Sekunden später hört man sie im hinteren Raum an der Caffettiera hantieren, den Espresso vorbereiten.

„Sagen Sie mal“, fragt der Alte, und seine Augen blitzen sehr lebendig unter der Ballonmütze hervor: „Was erzählt man sich im Ausland so über Italien?“

Na, was denn schon: Fußballerstreik, die Ermittlungen gegen hohe Staatsanwaälte ... „Nein, das nicht“, sagt er, „wer, meint man bei euch, wird am 21.April die Wahlen gewinnen?“

Seltsame Frage für einen Italiener; aber immerhin: Er kennt mich als Journalisten, weil die Osteria seines Schwiegersohns im Hinterland von Agrigent in einem meiner Artikel vorkam und der mich daraufhin mal um Rat für Werbung im Ausland gebeten hatte. Erst nach mehreren Besuchen im Geschäft des Don Tano wurde mir klar: Der Mann regierte von seinem klapprigen Stuhl im Geschäft aus einen ansehnlichen Teil der Kleinstadt im Inneren Siziliens.

Nehmen wir die Frage journalistisch: „Also die meisten meiner Kollegen ...“ – „Nein“, unterbricht er wieder ungeduldig, „nicht Ihre Kollegen. Was denken eure Politiker, wer gewinnt? Zu wem halten sie? Wem würden sie am liebsten Zuschüsse aus der Europäischen Union zuschanzen?“

Ein Redefluß geradezu einmaliger Länge für den wortkargen Mann. „Ehrlich gesagt, die meisten wünschen sich zumindest, daß die Neofaschisten nicht die Regierung stellen ...“ Don Tano hebt die Schulter, stampft mit dem Stock auf: „Kann ich mir denken. Aber mit wem sonst soll man es halten? Den Kommunisten trau' ich nie und nimmer, auch wenn sie jetzt Linksdemokraten heißen. Berlusconi? Der hat seine Chance gehabt, den wählen wir nicht mehr.“ Pause. „Oder sollen wir doch? Was denkt euer Kanzler darüber?“

Unser Kanzler – keine Ahnung, ob er darüber überhaupt nachdenkt. „Befreundet ist er mit dem Chef der ehemaligen Christdemokraten, Rocco Buttiglione ...“ „Ach, geh weg mit dem“, sagt Don Tano, „der kriegt ja gerade mal drei Prozent zusammen.“

Das Problem beißt ihn zutiefst. „Wen sollen wir wählen“, wiederholt er leise, mehr zu sich als zu mir. „Ehii?“ Die Frage gilt seinem Neffen, der hinter mir eingetreten ist. „Auch keine Idee, was?“ Der Neffe hebt ergeben die Schultern. „Letztes Mal haben wir ja ein bißchen dem Orlando ...“ „Geh mir mit dem“, blafft Don Tano: „Der sollte Investitionen ranholen, statt dessen turnt er nur im Ausland herum und zieht Shows ab.“

Immerhin eine Bestätigung der Gerüchte, die schon seit einiger Zeit zirkulieren: Leoluca Orlando, vor drei Jahren mit triumphalen 75 Prozent der Stimmen zum Oberbürgermeister Palermos gewählt und schon vorher als Antimafiakämpfer in aller Welt bekannt, dieser Orlando soll durchaus auch von Mafiafamilien Stimmen erhalten haben; Grund: Er war damals der einzige, dem sich der römische Staat wie die Brüsseler Eurokraten noch Fonds zuzuweisen getrauten. Pragmatisch, wie die Mafia ist, hatte sie keine Probleme, ihrem offiziellen Erzfeind ein paar zehntausend der von ihr nach glaubhaften Schätzungen dirigierten etwa 500.000 Stimmen Siziliens zukommen zu lassen.

Don Tano liest in meinen Augen, daß mich diese Bestätigung ein wenig verwirrt. „Che vuoi fare“, sagt er, was willst du machen. Geschäft ist eben Geschäft, auch wenn man einen Saubermann mitschlucken muß. Mittlerweile aber kriegt der Saubermann auch keine Gelder mehr her, seither ist sein Stern allenthalben im unaufhaltbaren Sinkflug. Schon bei den letzten Europawahlen stand eine Null vor dem Komma für Orlandos Formation „la Rete“.

Giangiacomo, Don Tanos Neffe, muß hinüber nach Gela fahren, eine Partie Kostüme aus der dortigen Dependence abholen, ob ich mitkommen wolle? Eigentlich hatte ich einen Besuch bei den Tempeln von Agrigent vor, aber na gut ... Giangiacomo scheint am Thema Wahlen mindestens ebenso interessiert wie sein Onkel. „Ein sehr schwieriges Problem“, sagt er, „nach all dem Druck, den der Staat in den letzten Jahren hier ausgeübt hat, müssen wir wieder in der Politik Fuß fassen.“ Daß die Mitglieder sizilianischer Familien dorthin ihr Kreuz setzen, wohin es der Vater haben will, ist nicht nur der patriarchalischen Struktur wegen gesichert – Siziliens Bosse haben durchaus effektive Systeme zur Kontrolle „richtiger“ Stimmabgabe entwickelt – wer ausschert, kriegt eins auf die Rübe. Mehrere falschspielende „Stimmenverkäufer“ wurden nach der letzten Wahl vor zwei Jahren umgebracht.

Das Dilemma besteht diesmal darin: Von der programmatischen Aussage her würden sich die mittlerweile in Nationale Allianz umgetauften Neofaschisten ebenso anbieten wie Berlusconis „Forza Italia“: Beide versprechen, im Falle der Regierungsübernahme viele Gesetze abzuschaffen, die die sizilianische Mafia stören. So etwa die verschärfte Isolierung eingesperrter Bosse von ihren Gefolgsleuten, die Beschlagnahme suspekten Reichtums, die Möglichkeit langer Geheimhaltung von Ermittlungen. Doch irgendwie „trauen wir den Neofaschisten einfach nicht“, meint Giangiacomo, „du weißt ja, Mussolini“. Der „Duce“ hatte nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten alsbald einen sehr effizienten Präfekten nach Sizilien geschickt, der mit dem Motto „Ich werde mafioser sein als die Mafiosi“ Hunderte großer Capi zur Strecke brachte. „Ich gehe jede Wette ein“, spinnt Giangiacomo seinen Faden weiter, „daß auch die Neofaschisten so loslegen: Wirtschaftlich und politisch werden sie bei der allgemeinen Lage keine Erfolge haben, also werden sie mit dem Kampf um innere Sicherheit Punkte holen wollen.“ Berlusconi aber – nun ja, über den hatte schon Don Tano sein Verdikt ausgesprochen: Daumen nach unten ...

Auch die Mitte-Links-Allianz könnte die Wahlen gewinnen – und mafiose Gruppen haben zumindest seit der Erfahrung mit Mussolini immer darauf geachtet, bei allen politischen Gruppierungen genügend Einfluß zu bekommen.

Gela kommt in Sicht: eines der berüchtigsten Mafianester, es gab in manchen Monaten Dutzende von Morden. Eine durch Erdölbohrungen reich gewordene, total verindustrialisierte Stadt auf vormals strotzend antikem Boden; von der griechischen Siedlung aus dem 6. Jahrhundert vor Christus sind nur noch im Museum Reste vorhanden und außerhalb ein paar Ruinen. Giangiacomo macht für jeden Fall mal das Handschuhfach auf: Da liegt seine Pistole drin, gut griffbereit und wenn ich nicht irre, auch entsichert. „Man weiß nie“, sagt er, „der Wahlkampf hat ja auch schon begonnen.“ Die Sorge ist vielleicht nicht unbegründet: Traditionell arbeitet die Mafia gerne zu Zeiten, in denen die Aufmerksamkeit allem anderen gilt als ihren Verbrechen.

Unsere Reise verläuft absolut ruhig, Giangiacomo bekommt seine Kleider, schließt auch außerhalb von Gela das Handschuhfach wieder. Und sofort kehrt, kaum ist die Angst vor der anderen Stadt vorbei, wieder die Frage nach den Wahlen zurück. „Wen würdest du bei den Linken denn wählen?“

Ich erkläre ihm, daß ich aus einer linksgrünen Richtung komme – „Au weia“, seufzt er, „da ist bei uns gar nichts zu machen, gar nichts.“ Dann holt er tief Atem: „Und von Dini, was hältst du davon, wenn wir Dini unsere Stimmen geben? Viele sagen, der wird ein neuer Andreotti ...“

Das hört man oft, nicht nur in mafiosen Kreisen: Seit der bis dahin völlig unbekannte, graumäusige Schatzminister Anfang 1995 Ministerpräsident wurde, hat er ganz ähnlich Steher- und Stehaufmännchenqualitäten bewiesen wie der siebenmalige Ministerpräsdient Giulio Andreotti. Von Kontakten zur Mafia, wie sie jetzt bei Andreotti gar zu einem Prozeß geführt haben, ist bei Dini allerdings noch nichts bekannt ... „Stimmt“, sagt Giangiacomo, als er mich wieder bei Don Tano abliefert, „aber bisher hatte er ja noch keine Partei. Nun hat er eine, und da muß er sehen, woher er die Stimmen kriegt. Wir könnten ihm welche geben.“

Don Tano hat das Ende des Gesprächs mitgekriegt. „Ich weiß nicht“, sagt er, „mir ist der Kerl schon zu alt. Man muß Leute von unten aufbauen.“ Dann schlägt er seinen Mantel höher um die Schultern, als fröstele ihn. „Aber wen könnte man aufbauen? Alles Schlappschwänze, keiner hat mehr Mut.“

Hinter mir seufzt Giangiacomo; der Rüffel ist angekommen. „Von uns“, sagt er, „kann sich keiner präsentieren. Wer von uns derzeit auf die Bühne steigt, wird abgeschossen.“ Unsicher, ob er das nur politisch meint.

Don Tano nickt. Er sieht aus wie einer, der alle Macht der Welt in Händen hält und nicht weiß, wohin damit. Langsam dreht er sich um: „Vabbon“. Das Gespräch ist beendet. Auch ich, zeigt seine Geste, war keine Entscheidungshilfe für ihn. Er muß weiter grübeln, wem er seine Stimmen gibt.