Heilige Johanna von Pingelshagen

■ DDR-Revival-Pharmakon oder Gruppentherapie? Uraufführung von Peter Dehlers Ostklamotte „Sprachlos“ am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin

Der Osten ist ein Irrenhaus, und die Ostler gehören allesamt auf die Couch. Welcher Westler mit Osterfahrung würde dem nicht vorbehaltlos zustimmen? „Die Mauer war kein Fehler. Der Fehler ist, daß wir das Dach vergessen haben“, brummt Altgenosse Rudi. Welcher Westler auf Wohlstandsentzug würde nicht begeistert nicken? Der 33jährige Musiker und Kabarettist Peter Dehler, seit sechs Jahren Regisseur und Hausautor des Schweriner Staatstheaters, gibt dem Ostlerhaß Futter – könnte man meinen. Doch ganz so einfach geht sein Stück nicht auf.

In der psychiatrischen Anstalt Pingelshagen, irgendwo im hintersten Hinterpommern, bereiten die Patienten den 47. Jahrestag der Gründung der DDR vor. „Es hat sich gelohnt, Genossen“ – mit diesem Kampfruf präsentiert Bruno, der Kaninchenzüchter, den neuen Zuchtrammler, den das Kollektiv der Kleintierzüchter Unterlangen- Altenbach den Werktätigen zum 47. Jahrestag schenkt. Und Margot, die Schulrätin, macht „mit der unter uns üblichen Offenheit“ auf die Probleme aufmerksam, die es auch im entwickelten Sozialismus hier und da doch geben könnte, während sich der Genosse Unteroffizier Peter die Ehrennadel „Held der Deutschen Demokratischen Republik“ an die Brust heften läßt. Und leise singt der Chor dazu ein Aufbaulied.

Ein Haufen Irrer spielt DDR, und alles ist wie früher. Doch das Ostbestiarium, die Auferstehung der absurden Zwangshandlungen und Sprachspiele des DDR-Alltags, ist vorläufig nur eine Versuchsanordnung. Denn die Reise in die heilende Vergangenheit wird gesteuert von kleinen, bunten Pillen: DDR-Revival-Pharmakon. Ersonnen hat das Wundermittel der Chefarzt Dr. Lothar Lhose, ein Kleinstadt-Mabuse aus dem Westen. Vorerst ist die Wirkung der Pillen noch begrenzt, nach zwei oder drei Stunden weicht aus den Figuren alle Kraft. Depersonalisiert taumeln sie dann über die Bühne, Genosse Rudi verbeißt sich ins Grundgesetz und Kleintierzüchter Bruno katzbuckelt vor imaginären Chefs. Dr. Lhose indes vertraut seiner Forschung und will an die Öffentlichkeit gehen, sobald die Patienten vier Stunden DDR am Stück durchhalten.

Auftritt: die Praktikantin aus dem Westen. Mit ihrem humanistisch geschulten Blick erkennt Deborah sofort, was den Patienten eigentlich fehlt („Zeit und Liebe, Zuneigung, Wärme, Bestätigung“), und startet flugs die heimliche Gegentherapie. Aus dem grauen Haufen zerbrochener DDR- Identitäten macht sie im Handumdrehen selbstbewußt ihrer Vergangenheit ins Auge blickende Persönlichkeiten („Habt ihr eine Vergangenheit?“ Alle: „Ja.“ „Wollt ihr sie vergessen?“ Alle: „Nein!“) Fehlte nur noch, daß sie „I'm east, and I'm proud“ skandierend über die Bühne steppen.

Peter Dehler hat ein bissiges Stück über Bewältigungsstrategien geschrieben. Schön klamottenhaft hat er es selbst inszeniert. Ganz unsentimental und voller Ironie führt er die beachtliche Typenpalette „Untertan-Ost“ vor. Gelungene Miniaturen des DDR-Alltags und dessen, was von ihm übriggeblieben ist – ein Stück für Kenner und Liebhaber des Ostens.

Fast erwartungsgemäß scheitert der Regisseur wie der Autor an Deborah: Das keimfrei Gute gibt einfach keine überzeugende Bühnenfigur ab. So sehr sich Judith van der Werff auch müht, zu offensichtlich ist ihre heilige Johanna von Pingelshagen als Botschaftsträgerin angelegt. Die von ihr initiierte Gruppentherapie verläßt denn auch momentweise die Klamottenebene – was wiederum sehr gut funktioniert.

Wenn der Grenzsoldat Peter stockend, aber mit wachsender Bewußtheit darüber spricht, daß er einen Menschen erschossen hat, dann spürt man jenseits aller hobbypsychologischen Klischees das Heilsame dieser Konfrontation mit der eigenen Biographie, und im Parkett ist es mucksmäuschenstill. Da lugt, hinter allerlei Ostlerulk versteckt, doch noch eine Moral aus der Geschichte. Wie unverkrampft das hier gelingt, erinnert dabei durchaus an Thomas Brussigs Roman „Helden wie wir“ – den Peter Dehler im April übrigens am Deutschen Theater Berlin inszenieren wird. Kai Voigtländer

„Sprachlos“ von Peter Dehler. Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin. Regie: Peter Dehler, Bühne: Jürgen Rennebach