Die Vertreibung aus Kirkuk

Um sein Regime zu retten, läßt Saddam Hussein Kurden systematisch aus der Ölstadt vertreiben. Die internationale Gemeinschaft ignoriert's  ■ Aus Chamchamal Helen Feinberg

Awara klagt nicht, sie ist nicht wütend, nicht einmal empört. Sie hat Angst. „Nenn mich einfach Awara“ – Flüchtling. Ruhig kommen die Worte über ihre Lippen. „Das ist es, wozu sie uns gemacht haben.“ Awara ist Kurdin aus Kirkuk. Vor einigen Wochen hat die irakische Polizei sie und ihre Familie aus der Stadt ausgewiesen. Einen besonderen Grund dafür gibt es nicht. „Wir sind Kurden, das ist alles“, sagt sie.

Awara ist wie ihre Mutter und auch ihr Vater in Kirkuk geboren, dort ging sie zur Schule. Von gelegentlichen Ausflügen abgesehen, hat sie mit ihren 33 Jahren nie einen anderen Ort gesehen, nicht einmal Bagdad. Jetzt lebt sie in Chamchamal, der Kleinstadt an der Grenze zwischen den von den Kurden und den von Truppen Saddam Husseins kontrollierten kurdischen Gebieten in Nordirak. Weniger als ein Kilometer trennt ihr neues Zuhause von den irakischen Truppen, die auch an diesem Morgen wieder einmal mit schwerer Artillerie auf das Städtchen schießen. Zwei Jugendliche werden getötet, fünf Personen verletzt.

Alltag in Chamchamal. Wie eine Schwalbe mit gebrochenen Flügeln sitzt Awara auf der auf dem Boden ausgebreiteten Matratze, die Arme fest an den mageren Körper gepreßt, die Hände im Schoß vergraben. Der Stoff ist an einigen Stellen schon ganz abgewetzt, das Muster läßt sich nur noch erahnen.

„Sie verhörten uns nicht, es gab keine Untersuchung, nichts“, sagt Awara. Eines Morgens stand die Polizei vor der Tür und befahl: „Ihr müßt weg hier! Eine Begründung gab es nicht.“ Seitdem hat Awara Angst, daß ihre zurückgebliebenen Verwandten das gleiche Schicksal trifft.

„Manchmal umstellen sie ganze Stadtteile und durchsuchen Haus für Haus“, berichtet Rahna. Fast täglich berichten die kurdischen Zeitungen von willkürlichen Verhaftungen und Hinrichtungen im von Bagdad kontrollierten Irak. Mit der Verbreitung von Angst und Schrecken halten die Schergen das marode Regime aufrecht.

„Wen sie am Tag nicht finden, zu dem kommen sie in der Nacht und bringen ihn gleich zur Sicherheitspolizei“, fährt Rahna fort. Die Sicherheitspolizei ist neben den verschiedenen Geheimdienstabteilungen sowie den in den letzten zwei Jahren neu gegründeten und reorganisierten Armee-Einheiten zentrale Stütze Saddam Husseins.

Zu Rahnas Familie kam die Polizei gleich mehrmals. „Manchmal kamen sie eine Woche nicht, dann jede Woche und später alle drei Tage“, berichtet die Mutter von acht Kindern. Schließlich erhielt die Familie die Order, sich am nächsten Tag bei der Polizeibehörde einzufinden. Mit sieben weiteren Familien hat man sie auf einen Laster verfrachtet und nach Chamchamal deportiert.

Wenige Monate vor der Ausweisung wurde Rahnas Mann aus der staatlichen Behörde gefeuert, bei der er mehr als zwanzig Jahre gearbeitet hatte. Und weil er nicht in Kirkuk geboren ist, wurde ihm der Familienausweis entzogen, und die Familie verlor das Wohnrecht für die Stadt. Rahna und ihr Mann gingen daraufhin zu einem Anwalt. Der empfahl ihnen: „Haut ab!“

KurdInnen sind in Kirkuk seit über zwei Jahrzehnten unerwünscht. Mit einem der bedeutendsten Erdölfördergebiete der Welt bildet die Stadt einen der Hauptstreitpunkte zwischen dem in Bagdad im Namen der panarabischen Baath-Partei herrschenden Regime und der kurdischen Nationalbewegung. Wegen der kurdischen Bevölkerungsmehrheit in der Stadt und weil das Umland alte kurdische Siedlungsgebiete umfaßt, bildet die Ölstadt für die KurdInnen einen Teil Kurdistans. Das irakische Regime will freilich auf eine so wichtige Einnahmequelle nicht verzichten und versucht bevölkerungspolitische Tatsachen zu schaffen.

Kurden wurden aus den Ölfabriken entlassen und dürfen nur noch die niedrigsten Jobs verrichten, aber auch das nur, wenn sie auf den Parteilisten der Baath stehen. Nach einem Erlaß aus dem Jahr 1977 ist es Kurden verboten, in Kirkuk Grundbesitz zu erwerben, auch Erbschaften können nicht übertragen werden. Wer die Stadt einmal verlassen hat, verliert damit sämtliche Rechtsansprüche. Zur Zeit der britischen Besetzung lebten etwa dreißig arabische Familien in Kirkuk, heute stellen sie mindestens ein Viertel der etwa 600.000 EinwohnerInnen.

Mehrere hundert kurdische Familien wurden im vergangenen Jahr allein aus Kirkuk deportiert. Lastwagenweise werden sie über die Grenze in die kurdisch kontrollierten Gebiete gekarrt. Dort angekommen, können sie nur auf die Hilfe von Verwandten und Bekannten hoffen. Unter das Mandat des UN-Flüchtlingshochkommissariats fallen die Vertriebenen nicht, weil die Grenze zwischen dem irakischen Regime und dem selbstverwalteten Irakisch-Kurdistan nach internationalem Recht nicht existiert.

Ein paar morgendliche Sonnenstrahlen verirren sich auf Awaras Kleid, und im Spiel von Licht und Schatten weckt das Rosenmuster trotz winterlicher Kälte Frühlingsstimmung. Aber die Sonne vertreibt die drückende Leere der Wohnung nicht. Verlassen steht ein Kühlschrank mitten in der Küche, im Nebenzimmer sind drei Matratzen und ein paar alte Decken aufgestapelt, ein schäbiger Teppich bedeckt den eisigen Betonfußboden kaum. Die Farbe an den Wänden ist schon vor Jahren abgeblättert, hundert Quadratmeter Beton, nackter, kalter Beton – kein Herd, kein Schrank und gerade mal ein schon angerosteter kleiner Kerosinofen.

„Wir konnten gerade unsere Taschen mitnehmen, das war alles“, sagt Awara ruhig. Den gesamten Hausstand hat ihr Bruder zum Schleuderpreis verkauft. Die Händler wissen, daß die ausgewiesenen Familien keine andere Wahl haben, und zahlen deshalb nur Minimalpreise. Die wertvollen elektrischen Geräte, Kerosin und Benzin dürfen ohnedies nicht mitgenommen werden. In den selbstverwalteten Gebieten angekommen, teilen die Deportierten das Schicksal der etwa 90.000 Kirkuk-Vertriebenen, die seit Jahren in den im Verlauf der großen Vertreibungsprogramme in den achtziger Jahren errichteten collective towns und den Armenvierteln der Großstädte ein klägliches Dasein fristen. Ihr neues Zuhause sind die von den Aufständischen 1991 zerstörten Geheimdienstkomplexe oder die nur halb fertiggestellten Parteigebäude der Baath.

Am untersten Rand der Gesellschaft angelandet, bleiben ihnen nur Almosen, weil weder die kurdischen Behörden noch die internationalen Hilfsorganisationen die Probleme lösen können. Unter den selbst immer ärmer werdenden Alteingesessenen machen Verdächtigungen und üble Nachrede die Runde; ein schickes Auto, ein großes Haus und andere Reichtümer werden dort gesehen, wo es nicht einmal zu einem Schrank reicht. Und bei manchem kurdischen Politiker drängt sich der Eindruck auf, daß die Kirkuk-Frage zwar für Propagandazwecke recht ist. Doch wenn es darum geht, die akute Not zu vermindern, dann verweist man auf die UN-Büros.

Ohne Land- und sonstigen Besitz bleibt den Deportierten nichts anderes übrig, als sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen. Die Not macht sie zu einer leichten Beute für diejenigen, die für etwas Geld Drecksarbeit zu vergeben haben: Geheimdienste, Kriminelle und Milizionäre.

„Hier ein Dinar, dort ein Dinar“, sagt Awara mit ruhiger Stimme. „Wir können über jede Arbeit froh sein“, fügt sie noch leiser hinzu. Wer Glück hat, kann sich bei einem Großgrundbesitzer als TagelöhnerIn verdingen. Unter den Vertriebenen haben Mangel- und Unterernährung rapide zugenommen.

Aus einer kahlen Ecke ihres Holzverschlags zieht Saliha einen alten, ausgefransten Plastiksack. „Hier, das ist, was wir zu Essen haben“, sagt sie und fördert ein paar graufleckige Brotkrumen zutage. Saliha ist Mitglied des „Kirkuk- Flüchtlingskomitees“; wie oft sie schon vor der UN gegen die verheerenden Lebensbedingungen demonstriert hat, weiß sie inzwischen nicht mehr. „Sie müssen uns Lebensmittel geben und Medikamente“, fordert Saliha. Und die UNO solle Druck auf Bagdad ausüben, die Vertreibung zu stoppen.

Zwar werden in Kirkuk noch immer vier Sprachen gesprochen: Aramäisch, Kurdisch, Arabisch und Türkisch. Doch wenn es nach den Plänen Saddam Husseins geht, könnte die multiethnische und -religiöse Geschichte der Stadt bald beendet sein.