Der Politik die Grenzen aufzeigen

Seit vier Jahren existiert der Verfassungsgerichtshof. Das Gremium trifft sich nur einmal im Monat. Jährlich werden über hundert Fälle beraten  ■ Von Michael Schmuck

Ein Aufschrei ging durchs Land: Im Januar 1993 setzte ein Gericht Erich Honecker auf freien Fuß. Die Zeit hinter Gittern, so das Urteil, verstoße gegen die Menschenwürde des schwerkranken ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden. Die heftig kritiserte Entscheidung fällte ein Gremium, das bis dahin kaum jemand richtig wahrgenommen hatte: der neue Verfassungsgerichtshof. Denn seit dem 26. März 1992 hat auch Berlin, was ihm bis dahin der Vier-Mächte- Status verwehrt hatte: ein eigenes Landesverfassungsgericht.

In den vier Jahren seiner Existenz machte das Gericht noch öfter von sich reden. So lehnte es eine Freilassung von Stasi-Chef Erich Mielke ab, weil die Haft in seinem Fall nicht gegen die Menschenwürde verstoße; es erklärte das Landesschulamt für rechtmäßig und segnete die Schließung des Schiller-Theaters ab. Und im Streit um die Wahl der Vizepräsidenten im Abgeordnetenhaus gab das Gericht vor kurzem der grünen Fraktion mit der Auffassung recht, daß alle Fraktionen eigene Vorschläge für die Vizeposten machen dürften.

Insgesamt, so die Bilanz von Politik und Justiz, hat das oberste Berliner Gericht seine Aufgabe erfüllt, bei Streitigkeiten zwischen Bürger und Staat und zwischen Staatsorganen den obersten Schlichter in der Hauptstadt zu spielen (siehe Kasten).

Honeckers berühmte Verfassungsbeschwerde war eine der wenigen, denen Erfolg beschieden war. Von mehr als hundert pro Jahr seien im Durchschnitt nur drei erfolgreich, so Vizepräsident Erhart Körting. „Wir haben im gewissen Sinne eben eine Art Sozialfunktion für Menschen oder Instituionen, die sich mit einer früheren Entscheidung nicht abfinden möchten. Aber selbst ein verlorener Fall kann ein Erfolg sein. Oftmals sagen wir in der Urteilsbegründung, wie künftig in ähnlichen Fällen verfahren werden sollte und zeigen dem Gesetzgeber seine Grenzen auf. Dabei werden wir aber stets zurückhaltend sein, denn wir sind keine Kontrolleinrichtung des Staates für Fälle, in denen mit politischen Mitteln nichts mehr machbar ist. Wir weisen ihn nur in Notfällen in seine Schranken.“

Die rechtspolitsche Sprecherin der SPD-Fraktion, Kirsten Flesch, sieht in diesem In-die-Schranken- weisen mögliche Konflikte mit der Politik. „Politikern passen Entscheidungen der Verfassungsgerichte nicht immer, und sie versuchen, die Entscheidungsfreiheit der Gerichte zu beschränken. Wir sind auch nicht immer mit allen Entscheidungen glücklich, aber auch das ist ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie.“

Auch Renate Künast, rechtspolitische Sprecherin der bündnisgrünen Fraktion, sieht das ähnlich: „Es ist ein Fortschritt für die politische Kultur und für die Bürger, die nun nicht mehr den langen Weg nach Karlsruhe gehen müssen.“

Das Gericht hat neun Mitglieder, die vom Abgeordnetenhaus gewählt werden und ehrenamtlich arbeiten. Drei müssen laut Gesetz auch im Hauptberuf Richter sein, drei müssen wenigstens Juristen, drei brauchen keine Juristen zu sein.

„Die Zusammensetzung des Gerichts ist sehr weise“, sagt der Vizepräsident und Rechtsanwalt Erhart Körting. „Die Mischung ist bei Entscheidungen sehr hilfreich, Sachkenntnis aus Politik und Parlamentsarbeit kann einem Verfassungsgericht nicht schaden. Auch daß nicht automatisch die Präsidenten der obersten Landesgerichte Mitglied sind, wie in anderen Bundesländern, ist eine gute Lösung. Dort entscheiden diese Präsidenten dann nämlich – vereinfacht gesagt – noch einmal über ihre eigene frühere Rechtsprechung.“

Präsident des Gerichts ist Klaus Finkelnburg, Jahrgang 1935, Rechtsanwalt und Notar, Honorarprofessor für Staats- und Verwaltungsrecht an der FU und bis zu seiner Ernennung zum Verfassungsrichter CDU-Abgeordneter im Parlament. Verknüpfen darf er seine Tätigkeiten aber nicht miteinander. Wer als Verfassungsrichter mit einer Sache befaßt ist, darf sie nicht noch als Anwalt vertreten. Das hat er als maßgeblicher Vater des Gerichts auch selbst so ins Gesetz geschrieben: Bereits vor 25 Jahren hatte Finkelnburg ein Verfassungsgerichtsgesetz für Berlin ausgearbeitet.

Die Bezahlung der obersten Berliner Richter und Richterinnen war zunächst umstritten. Ursprünglich sollten sie wie Abgeordnete bezahlt werden: Monatlich 9.600 Mark für den Präsidenten, 7.200 Mark für den Vize und 4.800 Mark für die anderen Mitglieder. Ein üppiges Gehalt, verglichen mit anderen Bundesländern. Die Kritik ließ die Gehälter schließlich erheblich schrumpfen: Auf 650 Mark für den Präsidenten, 550 für den Vize und 450 für die übrigen. Allerdings bekommen sie leistungsorientiert zusätzlich pro Fall eine Aufwandsentschädigung: 100 Mark für Beschlüsse, 400 Mark für „begründete Sachentscheidungen“, also für Urteile. Wer schon ein Gehalt vom Staat bezieht, bekommt nur die Hälfte.

Das Gericht residiert im Kammergerichtsgebäude am Kleistpark. Der künftige Sitzungssaal wird noch umgebaut und ist umstritten, denn er hat eine Vergangenheit, die an die Terrorjustiz der Nazis erinnert: Hier verkündete einst Roland Freisler die Urteile des Volksgerichtshofes. Freisler hatte den Saal damals beansprucht, weil er glaubte, der Saal habe die entsprechende Größe, um seine brüllende Verhandlungsführung so richtig schallen zu lassen. Vom Kammergericht wurde er später als Allzweckraum benutzt: Unter anderem haben hier angehende Juristen ihre Übungsklausuren geschrieben.

Einmal im Monat tritt das Gericht zusammen und berät die etwa zehn bis 15 Fälle, die monatlich anfallen. Die Zahl sei im Vergleich zu anderen Landesverfassungsgerichten beträchtlich, schrieb der Präsident Finkelnburg kürzlich im Berliner Anwaltsblatt. Nur das Verfassungsgericht in Bayern kann mit mehr Fällen aufwarten, in anderen Ländern wie etwa in Niedersachsen bleiben die Roben der obersten RichterInnen viel häufiger im Schrank. Ein Feierabendgericht, wie manche anderen Verfassungsgerichte spöttisch genannt werden, ist der Berliner Verfassungsgerichtshof jedenfalls nicht.