Literarische Analphabeten

In Nigeria gibt es keine systematische Zensur. Vielleicht auch, weil das Militärregime nichts von der subversiven Kraft von Texten weiß  ■ Von Adewale Maja-Pearce

Abgesehen von Salman Rushdies „Satanischen Versen“ ist in Nigeria kein Buch verboten. Und das trotz der autoritären Natur des derzeitigen Militärregimes, das sich nicht scheut, Zeitungen zu schließen und sogar einen Schriftsteller per Justizmord umzubringen – weil er gewagt hatte, nach der Verteilung der üppigen Ressourcen des Landes zu fragen.

Die Gründe für diese „Freizügigkeit“ sind in erster Linie wirtschaftliche. Bücher sind sehr teuer, was bedeutet, daß sich die Verlage des Landes, derzeit 45, entweder auf Schulbücher konzentrieren oder auf die Eitelkeit prominenter Leute (wie zum Beispiel pensionierter Generäle), die eifrig darum bemüht sind, ihre Ruhmestaten für die Nachwelt zu aufzuschreiben. Keiner dieser beiden Verlagszweige ist auf ein differenziertes Vertriebssystem angewiesen – weshalb es in den städtischen Zentren des Landes auch so überraschend wenig Buchläden gibt. Mit anderen Worten: Die ökonomischen Fakten des Lebens in Nigeria entbinden die Regierung von der Notwendigkeit, zu kontrollieren, wer was publiziert – wenn denn eine Regierung von Fast- Analphabeten (und das ist ein Militärregime nun mal) die potentielle subversive Kraft eines Textes überhaupt erkennen kann.

Letzteres ist kein – oder jedenfalls nicht nur ein – rhetorischer Schnörkel: Der ermordete Schriftsteller Ken Saro-Wiwa zum Beispiel lebt weiter in seinen Büchern, die zur Zeit kaum so schnell nachgedruckt werden können, wie sie sich verkaufen. Auch Wole Soyinkas neuestes Buch „Ibadan: The Penkelemes Years“, das 1994 erschien, kann man im Buchladen auf dem Flughafen von Lagos kaufen – obwohl der Autor, der einzige Nobelpreisträger des Landes, durch die Einziehung seines Passes zur Flucht gezwungen wurde.

Es gibt sogar Gerüchte, denen zufolge die Regierung ein Kopfgeld auf Soyinka ausgesetzt hat, unter anderem deshalb, daß er seit der Machtergreifung des derzeitigen Herren – der vor zwei Jahren durch einen unblutigen Putsch und die Verhaftung des wahrscheinlichen Siegers der annullierten Wahlen an die Macht kam – internationalen Medien unzählige Interviews gab, in denen er den Präsidenten einen „komischen Knirps“ und „geistigen Zwerg“ nannte.

Dabei ist in diesem Zusammenhang wichtig festzustellen, daß „Ibadan“ nicht etwa ein unverständliches Theaterstück oder der Gedichtband eines nervigen Professors mit einer Vorliebe für lange Wörter und komplizierte Sätze ist; Soyinkas Buch ist vielmehr eine klare, eindeutige Verurteilung dieses ungeheuerlichen und anmaßenden Regimes und bezeichnet es als Symptom der „politischen Krankheit“ Nigerias seit seiner Unabhängigkeit. Allerdings ist es auch gut möglich, daß die Regierung gar keine Ahnung von der Existenz dieses Buches hat, das ohnehin jenseits der finanziellen Möglichkeiten eines durchschnittlichen Beamten oder Universitätsdozenten, geschweige eines Studenten liegt. Was heißt, daß es nur von Ausländern gekauft wird, auf dem Rückweg in ihre Länder.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß eine Literatur, die in ihrer erst 40jährigen Existenz bereits einen Nobelpreisträger produziert hat, jungen Autoren so wenig Veröffentlichungsmöglichkeiten zu bieten hat. Und auch die Londoner Verlagshäuser, denen der größte Verdienst zukommt, Soyinka und Co. überhaupt veröffentlicht zu haben, publizieren nur sehr zögerlich neue Autoren, deren Bücher zumeist nur auf einem eher schrumpfenden Markt im Ausland abgesetzt werden können. Denn obwohl es natürlich stimmt, daß die Literatur eines Landes nicht durch Geschmack und Vorlieben wohlmeinender Ausländer diktiert werden kann oder sollte, wird doch jeder aufstrebende Autor eine solcherart erzwungene politische Korrektheit gegen seinen literarischen Ehrgeiz eintauschen.

Und warum auch nicht. Wer schreibt, will sich gedruckt sehen: Das ist schließlich der einzige Beweis dafür, daß man Schriftsteller ist. Insofern gibt es also nur die Wahl zwischen der Schublade und der Frage, wie man an Geld kommt, um den Drucker bezahlen zu können. Die Zahl der Bücher, die in Nigeria im Selbstverlag herauskommen, ist in den letzten zehn Jahren beständig gestiegen. Wie nicht anders zu erwarten, sind viele dieser Titel Polemiken gegen die, die dem Schreiber seinen Platz an der Sonne streitig machen. Umgekehrt bewirkt aber die arrogante Ignoranz ebenjener Kräfte, denen es nicht das geringste ausmacht, einen Nobelpreisträger ins Exil zu jagen, weil er im Radio den Präsidenten beleidigt, daß diese jungen Schriftsteller wenigstens ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen können.

Erst vor kurzem traf ich einen Menschenrechtsaktivisten, der im Gebäude, in dem die führende Menschenrechtsorganisation Nigerias ihr Hauptbüro hat, seinen neuesten Gedichtband verkaufte – und zwar nur zwei Tage nachdem zwei Mitarbeiter dieser Organisation verhaftet wurden (und übrigens bis heute ohne Anklage und Prozeß geblieben sind). Auch der Dichter selbst stand angeblich auf der Liste der Gesuchten, aber nur wegen seiner politischen Aktivitäten. Wegen seiner Gedichte hatte er nichts zu befürchten: es würde sie ohnehin keiner lesen.

Eine letzte Ironie: Am Tag nach dem Verbot von Salman Rushdies „Satanischen Versen“ verkauften Schwarzhändler unbehelligt Exemplare seines Buches auf dem Flughafen. Und wer weiß, vielleicht waren unter den Kunden auch zwei oder drei Regierungsbeamte, die auf dem Flug von Lagos nach London ein anständiges Buch lesen wollten. Denn auch eine Regierung von Analphabeten braucht den einen oder anderen Akademiker – die ihrerseits in solchen Gefilden jedoch nur überleben, solange sie nicht zu viele lange englische Sätze bilden.

Adewale Maja-Pearce ist Afrikaspezialist bei „Index on Censorship“