Keine mindere Kunst

Ein Phönix in der einen Sprache ist in der anderen nur ein Hofhuhn. Was heißt das für Übersetzungen? Sind sie auch eine Form von Zensur?  ■ Von Alberto Manguel

Vor ein paar Monaten übersetzte ich drei Kurzgeschichten der verstorbenen französischen Schriftstellerin Marguerite Yourcenar. Diese Geschichten, die auf Französisch unter dem Titel „Conte Bleu“ erschienen sind – von mir als „A Blue Tale“ ins Englische gebracht – sind frühe Arbeiten der Schriftstellerin, die später eine so hervorragende Stilistin werden sollte. Verständlicherweise verirren sich die Geschichten – geschrieben im Überschwang und in der Allwissenheit der Jugend – ab und an aus den Gefilden nüchternen Blaus ins Grellviolette.

Da Übersetzer im Gegensatz zu Autoren die Möglichkeit haben, Fehler der Vergangenheit zu korrigieren, erschien es mir höchst pedantisch, jeden Schnörkel im Text der jungen Yourcenar bewahren zu wollen. Zudem hat das Englische mit sprachlichen Überschwenglichkeiten weniger Geduld als das Französische. Und so kam es denn, daß ich – mea culpa, mea maxima culpa – das eine und andere Mal stillschweigend ein Adjektiv wegließ oder eines der übertriebenen Gleichnisse etwas beschnitt.

Vladimir Nabokov wurde einmal von seinem Freund Edmund Wilson kritisiert, daß er „Eugene Onegin“ mit allen Unebenheiten übersetzt habe. Nabokov antwortete, die Aufgabe eines Übersetzers sei nicht, das Original zu verbessern oder zu kommentieren, sondern dem Leser, der die fremde Sprache nicht kennt, einen Text zu geben, der aus Äquivalenten der eigenen Sprache neu komponiert ist. Offenbar meinte Nabokov (obwohl ich das bei diesem Meisterhandwerker kaum glauben kann), daß Sprachen sowohl semantisch als auch im Ton „äquivalent“ seien; und daß das, was in der einen Sprache an Vorstellung produziert wird, in einer anderen reproduziert werden kann, ohne daß es einen neuen Schöpfungsakt geben muß.

In Wahrheit ist es jedoch so – und jeder Übersetzer lernt das gleich am Anfang der ersten Seite –, daß ein Phoenix in der einen Sprache in der anderen nur ein Hofhuhn ist. Und um dieses grandiose Geflügel (ich meine nicht das Huhn) mit der Majestät eines Vogels auszustatten, der aus seiner eigenen Asche wiedergeboren wird, muß sich eine andere Sprache vielleicht ein anderes Wesen vorstellen, das aus dem Bestiarium ihrer eigenen Wahrnehmung von Fremdheit kommt. Im Englischen hat beispielsweise das Wort „Phoenix“ immer noch einen sehr kraftvollen Ton, während ave fénix im Spanischen nur mehr Teil eines sprachlichen Bombastes ist, der sich aus dem 17. Jahrhundert herübergerettet hat.

Im frühen Mittelalter bedeutete translation (engl. „Übersetzung“, aus dem Partizip der Vergangenheitsform des lateinischen transferre) die Überführung der Überreste von Heiligen von einem Ort zum anderen. Nicht selten waren diese Überführungen illegal, wenn zum Beispiel die Relikte aus der einen Stadt gestohlen und, zur Erhöhung deren Prestige, in eine andere gebracht wurden. Auf diese Weise kam auch der Körper des heiligen Markus von Konstantinopel nach Venedig, versteckt unter einer Ladung Schweinefleisch, die anzufassen die türkischen Wächter an den Toren Konstantinopels sich weigerten. Sich etwas Wertvolles nehmen und es, mit welchen Mitteln auch immer, zu etwas eigenem machen: keine schlechte Definition der literarischen Übersetzung.

Keine Übersetzung ist je unschuldig. Jedesmal ist eine Lesart impliziert, eine Wahl von Thema und Interpretation, eine Verweigerung oder ein Ausschluß anderer Textmöglichkeiten, eine Redefinition unter Bedingungen, die der Übersetzer gesetzt hat, der für diese Arbeit den Titel des Autors beansprucht. Da eine Übersetzung ebensowenig unparteiisch sein kann wie eine Lesart objektiv, ist das Übersetzen eine Verantwortung, die weit über die Grenzen der übersetzten Seite hinausgeht.

Das gilt nicht nur für Übersetzungen von einer Sprache in eine andere, sondern häufig schon innerhalb derselben Sprache, zum Beispiel von Genre zu Genre oder von einer Literaturgattung zur anderen. Hier werden nicht alle „Übersetzungen“ als solche gewürdigt. Wenn Charles und Mary Lamb Shakespeares Stücke in Erzählungen für Kinder verwandeln oder Viriginia Woolf erklärt, Constance Garnetts Umdichtungen von Turgenjew gehörten zur „großen englischen Literatur“, dann wird die Verlagerung des Textes in die Kinderstube oder in die Nationalliteratur selten als „Übersetzung“ im Wortsinn anerkannt. Ob Schweinefleisch, Lamb oder Woolf – jeder Übersetzer versteckt den Text hinter einer anderen, einer näheren oder ferneren Bedeutung.

Wäre Übersetzen nur ein simpler Akt des Austauschens, gäbe es keine Möglichkeiten für Verzerrung und Zensur (oder Verbesserung und Erhellung) – es wäre wie Fotokopieren oder, allerhöchstens, handschriftliche Transskription. Aber leider – entschuldige, Nabokov! – ist dem nicht so. Wenn wir anerkennen, daß jede Übersetzung durch den simplen Prozeß, einen Text von der einen in die andere Sprache, in andere Räume und Zeiten zu bringen, ihn tatsächlich verändert, verbessert oder verschlechtert, müssen wir auch akzeptieren, daß jede Übersetzung – Übertragung, Neuerzählung, Umwidmung – dem Original eine Prêt- à-porter-Lesart hinzufügt, einen impliziten Kommentar. Und an genau dieser Stelle tritt Zensur ein.

Daß eine Übersetzung einen Text versteckt, verzerrt, unterdrückt oder sogar unterschlägt, ist etwas, was Leser stillschweigend anerkennen, weshalb sie die Übersetzung als eine „Version“ des Originals anerkennen müssen. Im Index von John Boswells Pionierarbeit über Homosexualität im Mittelalter heißt es unter „Übersetzung“: „siehe Falschübersetzung“ – oder was Boswell im Text dann „willkürliche Falsifikation historischer Tatsachen“ nennt.

Die Fälle gesäuberter Übersetzungen griechischer und lateinischer Texte sind zu zahlreich, als daß man sie alle erwähnen könnte. Sie reichen von der Veränderung des Personalpronomens, das das Geschlecht einer Figur verändert, bis zur Unterdrückung eines kompletten Textes wie der „Amores“ des Pseudo-Lucian. Thomas Francklin ließ 1781 dieses Buch bei der englischen Ausgabe des Gesamtwerkes des Autors aus, weil es einen Dialog enthält, in dem sich eine Gruppe von Männern darüber unterhält, ob Knaben dem weiblichen Geschlecht erotisch vorzuziehen seien. „Denn diese Diskussion ist, da sich zumindest unsere Nation längst zugunsten der Damen entschieden hat, völlig überflüssig geworden“, schrieb der säuberliche Francklin.

Das ganze 19. Jahrhundert über wurden griechische und lateinische Klassiker zur moralischen Erziehung der Frauen nur in gesäuberter Form zugelassen. Reverend J.W. Burgon machte diesen Punkt klar, als er 1884 von der Kanzel des New College in Oxford gegen die Zulassung von Frauen an die Universität predigte, weil sie hier die Texte im Original lesen müßten. „Wenn sie sich mit Männern erfolgreich um Auszeichnungen bewerben will, muß man der Frau die klassischen Schriftsteller der Antike ohne Vorbehalte in die Hand geben – das heißt, man muß ihr die Obszönitäten der griechischen und römischen Literatur zumuten. Wollen Sie das wirklich? Ist das Teil eures Planes, ihren schönen Geist mit dem Schmutz einer Zivilisation der Alten Welt zu verderben und Jungfrauen in ihrer Blüte mit unzähligen Abscheulichkeiten bekanntzumachen, die Frauen jeden Alters (und Männer, wenn das denn möglich wäre) lieber nicht kennen sollten?“

Man kann durch Übersetzung nicht nur ein Wort oder eine Zeile zensieren, sondern sogar eine ganze Kultur. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts erlaubte König Philipp der Zweite, Held der Gegenreformation, den Jesuiten, in die Fußstapfen der Franziskaner zu treten und sich als Missionare im Dschungel festzusetzen, und zwar dort, wo heute Paraguay ist. Von 1609 bis zu ihrer Vertreibung aus den Kolonien 1767 gründeten die Jesuiten Siedlungen für die Eingeborenen Guarani. Diese Siedlungen wurden reducciones genannt, denn in diesen von hohen Mauern umgebenen Behausungen waren alle Männer, Frauen und Kinder „reduziert“ auf die Dogmen der christlichen Zivilisation.

Die Unterschiede zwischen Eroberern und Eroberten waren jedoch nicht so einfach wegzuwischen. „Was mich in deinen Augen zu einem Heiden macht“, sagte ein Guarani-Schamane zu einem der Missionare, „verhindert, daß du in meinen Augen ein Christ sein kannst.“ Die Jesuiten begriffen, daß wirksame Bekehrung auf Gegenseitigkeit beruhen muß und daß das Verstehen der anderen der Schlüssel wäre, um die Heiden darin zu halten, was in Anlehnung an das Vokabular der christlichen Mystiker „heimliche Gefangenschaft“ hieß. Der erste Schritt zum Verständnis des anderen war, ihre Sprache zu lernen und zu übersetzen.

Eine Kultur ist definiert durch das, was sie benennen kann. Um zensieren zu können, muß die erobernde Kultur dasselbe Vokabular besitzen wie die eroberte. Deshalb birgt die Übersetzung in die Sprache der Eroberer immer auch die Gefahr der Assimilation und Vernichtung; Übersetzung in die Sprache der Eroberten hingegen die Gefahr der Überwältigung

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oder Unterhöhlung. Diese dem Übersetzen innewohnenden Bedingungen können auf alle Variationen politischen Ungleichgewichts ausgeweitet werden.

Guarani (die bis heute – wenn auch sehr veränderte – Sprache von über einer Million Paraguayer) war bis zu diesem Zeitpunkt eine rein orale, schriftlose Sprache. Der Franziskaner Fray Luis de Bolaños, den die Ureinwohner wegen seiner großen Sprachbegabung „Gottes Zauberer“ nannten, stellte das erste Guarani-Wörterbuch zusammen. Seine Arbeit wurde von dem Jesuiten Antonio Ruiz de Montoya fortgeführt und vervollkommnet, der dem Werk vieler Jahre Arbeit den Titel „Thesaurus of the Guarani Tongue“ gab.

In seinem Vorwort zu einer Geschichte der jesuitischen Mission in Südamerika bemerkt der paraguayische Schriftsteller Augusto Roa Bastos, daß die Ureinwohner in erster Linie ihre angestammten Vorstellungen über Leben und Tod revidieren mußten, bevor sie Christen werden konnten. Indem sie die Sprache der Guarani benutzten und einige Koinzidenzen zwischen Guarani-Religionen und Christentum besonders hervorhoben, übersetzten die Jesuiten die Mythen der Guarani so, daß sie zu Voraussagen der Ankunft Christi wurden.

So wurden der Letzte-Letzte- Erste Vater, Ñamandú, der seinen eigenen Körper schuf, und die Eigenschaften dieses Körpers, die sich aus dem Urnebel herleiteten, zum christlichen Gott aus dem Buch der Schöpfung. Tupá, der Erste Vater, eine kleinere Gottheit im Guarani-Götterhimmel, wurde zum ersten Menschen, Adam. Die über Kreuz gelegten Stöcke, yvyrá yuasá, die in der Guarani-Kosmologie für die Aufrechterhaltung der irdischen Welt verantwortlich sind, wurden zum Heiligen Kreuz. Und da Ñamundús zweite Handlung die Schöpfung der Erde war, konnten die Jesuiten die ins Guarani übersetzte Bibel mit dem Gewicht göttlicher Autorität versehen.

In ihrer Übersetzung der Sprache der Guarani ins Spanische legten die Jesuiten bestimmten Termini, die innerhalb der Ureinwohnerschaft ein akzeptiertes oder sogar ideales soziales Verhalten bedeuteten, eine der katholischen Kirche oder dem spanischen Hof entsprungene und entsprechende Bedeutung bei. Der Guarani-Begriff für die Ehre und Würde des Individuums, der wortlose Dank für ein Geschenk, für ein bestimmtes im Gegensatz zum allgemeinen Wissen und für die gesellschaftliche Reaktion auf den Wechsel der Jahreszeiten und Lebensalter wurden ebenso bequem wie grob mit „Stolz“, „Undankbarkeit“, „Ignoranz“ und „Wechselhaftigkeit“ übersetzt.

Im Gegensatz zu den Behauptungen der Jesuiten trug das neue System von Glaubenssätzen nicht zum Glück der Ureinwohner bei. 1769 beschrieb der französische Forscher Louis Antoine de Bougainville die Guarani mit folgenden lakonischen Betrachtungen: „Diese Indianer [...] sind ein trauriger Anblick. Ständig zitternd unter dem Stock eines pedantischen und strengen Herren, haben sie keinerlei Eigentum und sind einem anstrengenden Arbeitsleben ausgesetzt, dessen Monotonie allein schon einen Menschen töten könnte. Deshalb gibt es beim Tod eines der Ihren auch kein Bedauern über den Verlust eines solchen Lebens.“

Als die Jesuiten schließlich aus Paraguay vertrieben waren, konnte der spanische Geschichtsschreiber Fernández de Oviedo über sie, die die Guarani ja angeblich „zivilisiert“ hatten, sagen, was der Brite Calgacus nach dem Ende der römischen Besatzung Britanniens gesagt haben soll: „Zwar nennen die, die diese Wandlungen ausgeführt haben, jenen Ort ,friedlich‘, aber ich finde, daß sie mehr als friedlich sind: Sie sind vernichtet.“

Heutzutage findet Zensur in der Übersetzung auf subtilere Weise statt. In einigen Ländern gibt es bestimmte Autoren noch immer nur in gesäuberten Fassungen. (Beispielsweise den Brasilianer Nelida Pinon in Kuba; den dekadenten Oscar Wilde in Rußland; Geschichtsschreibungen der amerikanischen Ureinwohner in den USA und Kanada; das französische Enfant terrible George Bataille in Spanien – sie alle sind vor kurzem noch in gekürzten Ausgaben erschienen. Und trotz all meiner guten Absichten: manch einer mag vielleicht auch meine Yourcenar- Version zensiert nennen.)

Andere Autoren, deren Botschaft politisch unbequem ist, werden gar nicht übersetzt; wer schwierig schreibt, wird zugunsten anderer, die einfacher zugänglich sind, übergangen oder ist nur in schwachen, uneleganten Übersetzungen vertreten. Auch wenn das den Zensurbegriff vielleicht etwas zu sehr zuspitzt, bleibt noch zu erwähnen, daß Autoren, deren Sprache keine einfachen Entsprechungen in der Sprache des Übersetzers haben, in eine Fußnotenkultur verwiesen werden, die die Kenntnis ihrer Bücher auf eine kleine akademische Elite beschränkt.

Nicht alles Übersetzen ist jedoch Korruption und Betrug. Manchmal können durch Übersetzung ganze Kulturen gerettet werden. So übergab im Januar 1976 der amerikanische Lexikograph Robert Laughlin dem Magistrat der südamerikanischen Stadt Zinacantán auf Knien ein Buch, an dem er 14 Jahre gearbeitet hatte: das große Tzotzil-Wörterbuch, das die Maya-Sprache von 120.000 Chiapas, bekannt als „Fledermausvolk“, ins Englische brachte. Während er dieses Buch den Tzotzil- Ältesten übergab, sagte Laughlin in der Sprache, die er so liebevoll aufgezeichnet hatte: „Wenn ein Ausländer kommt und zu euch sagt, ihr seid nur dumme Indianer und ohne Kultur, dann zeigt ihm dieses Buch, zeigt ihm die 30.000 Wörter eures Wissens, eure Auffassung von der Welt.“

Das sollte, das muß genügen.

Wir können nur verbieten,

was wir benennen können.

(George Steiner)

Manguel lebt als Schriftsteller und Kritiker

in Paris. Sein neuestes Buch ist „Another Part of the Forest: The Flamingo Anthology of Gay Literature“ (zusammen mit Craig Stephenson).