: Kolonien auf märkischem Sand
Manövriermasse der Großmachtpolitik: Muslimische Kriegsgefangene im „Sonderlager“ Zossen. Eine Fotoserie zu einer obskuren Episode des Ersten Weltkrieges im Berliner Museum für Völkerkunde ■ Von Stephan Schurr
Menschen an Orte zu bringen, von denen sie nie gehört haben – der Ehrgeiz des heutigen Tourismus wurde schon zu Zeiten des Ersten Weltkriegsgemetzels in die Tat umgesetzt. So stellten die Kolonialmächte Hunderttausende ihrer Unterworfenen aus der Herren Länder zunächst unter die gesegnete Fahne und später in die abendländischen Schützengräben. Pauschal und garantiert dabei: ein süßer Tod fürs Vaterland. Gerieten die Frontkämpfer mit dem Koran oder dem Amulett im Tornister jedoch in Feindesland, entstanden, so wie es die Haager Landkriegsordnung vorschreibt, exotische Enklaven – hierzulande als Lager bezeichnet. So geschehen auch im friedlichen Brandenburg, fernab von der Etappe, fernab vom Hindukusch und vom Sudan. Seit 1914 gab es zwischen Zossen und Wünsdorf zwei solche Lager, in denen mehr als 100.000 muslimische Kriegsgefangene aus Afrika und Asien untergebracht wurden. Ein Mitglied der Kommandantur fotografierte die Baracken und ihre Bewohner bei Arbeit, Spiel und Gottesdienst für propagandistische Zwecke. Die Aufnahmen sind nun im „Studio“ des Museums für Völkerkunde in Berlin-Dahlem ausgestellt.
Erbeutete Gefangene an einem Ort, der als „Sonderlager“ bezeichnet wird, Kriegsgefangene, die von Amts wegen einer speziellen „Behandlung“ zu unterziehen sind – mit den schlimmsten Erwartungen und Befürchtungen steigt man in der Abteilung „Südsee“, unweit von einem neuguineischen „Schädel-Schrein“, die Treppe zu einem kleinen Ausstellungsraum hinab. Doch die Sache ist zu kompliziert für eine Betroffenheitslektion. Die klugen (und dabei sparsamen) Erläuterungen in der Ausstellung sind dringend notwendig.
In diesem Ersten Weltkrieg war die Türkei mit den Deutschen verbündet, und da sie ihre osmanischen Großmachtgelüste durch die Verkündung eines „Heiligen Krieges“ gegen die Entente – das sind Frankreich, Großbritannien und Rußland – zu fördern trachtete, buhlten die Deutschen um die gefangen genommenen mohammedanischen Glaubensbrüder. Propaganda und Privilegien sollten die fremden Legionäre auf die türkisch-deutsche Seite locken. Es keimte die Hoffnung, Engländer und Franzosen dadurch nervös zu machen, „ihr Vertrauen in die Hilfsvölker“ zu erschüttern, der Traum von Aufständen in Indien und Afrika.
Die Hirngespinste gingen noch weiter: Deutsches und der Deutschen Reich wollte man den Gefangenen so schmackhaft machen, daß durch sie die deutsche Heilsbotschaft nebst Industrieproduktion nach einem glorreichen Kriegsende unter die Völker gebracht werden sollte. Im militärischen O-Ton wurde die Lagerkommandantur angewiesen, „die mohammedanischen, indischen und georgischen Kriegsgefangenen durch geeignete Behandlung und Propaganda derart zu beeinflussen, daß sie die Sache unserer Feinde verlassen, für jetzt und möglichst auch für die Zukunft“.
Menschen als Manövriermasse der Großmachtpolitik – wahrscheinlich wurde bei Zossen dieses elementare Lehrstück der politischen Kalkulationskunde zum ersten Mal geprobt. Ein Stück mit bitterem Ausgang für die Meinungsoffiziere im kaiserlichen Kriegsministerium und Auswärtigen Amt: Schätzungsweise ein Viertel war zum Frontwechsel bereit und ließ sich von den eigens herangekarrten mohammedanischen Geistlichen für die Dienste des Kalifen anwerben. Nur ein kleiner Teil davon, nämlich 1.800 Kriegsgefangene, verabschiedete sich 1916 unter den Klängen des Torgauer Marsches Richtung Konstantinopel. Spätestens Ende 1916 war ohnehin klar, daß es sonst nichts zu verlieren, geschweige denn zu gewinnen gab. Die Werbetrommel verstummte. Schuldig an dem Mißerfolg waren jene, die der Tugend des Verrats geschadet hatten: „Wer den Orient und seine Geschichte kennt, hat diese (das heißt andere) Erwartungen auch nicht gehabt“, schrieb dazu die Koloniale Rundschau. Zwei Beweggründe hatte Otto Stiehl, über Monate hinweg seine Fotoapparatur durchs Lager zu tragen, um die Vorteile eines ungewöhnlichen Arbeitsplatzes in der Umgebung von Fez-, Turban- und Burnusträgern zu nutzen: Zum einen wollte er den goldenen Alltag der privilegierten Gefangenen für die Öffentlichkeit dokumentieren, zum anderen bebilderte er damit die Veranstaltungen der deutschen „Nachrichtenstelle für den Orient“, Vorträge, in denen die „Schwäche und Schande der Entente“ angeprangert wurden, deren Frevel darin bestand, „farbige Hilfsvölker“ gegen das zivilisierte Abendland ins Feld zu schicken.
„Alltäglich“ im Wortsinn sind die Fotos vom Lagerleben: Gefangene bei der Gymnastik, Bilder von den mit großem Presserummel begleiteten, mit Prominenz aus Berlin bedachten religiösen Feiern, Gefangene vor einem Berg mit Grünkohl – sie durften ihre Speisen selbst zubereiten und eigenes Kochgeschirr benutzen –, Gefangene vor der aus Holz gebauten Moschee, der ersten auf deutschem Boden überhaupt. Für Beschäftigung sorgte man durch Handwerk. So schnitzten kunstfertige Tataren Holzpferdchen und für die umliegende Gegend Orts- und Straßenschilder, reich verziert und – selbst das Schwarzweißfoto läßt es vermuten – bunt bemalt. Inder und Afrikaner bauten eine Klärgrube, Trompeter und Trommler trafen sich zur Marschmusik. – Nicht „alltäglich“ sind hingegen jene Bilder, auf denen man Häftlinge beim strammen Appell vor den Baracken sieht. Markierungen sind auf ihrer Lagerkleidung an der linken Brustseite angebracht. Vor ihnen stehen die Herren in Uniform. Man erkennt darin erste Anzeichen der seit Hitler so wohlbekannten deutschen Lager-Ikonographie. Bei diesen Fotografien lassen sich die Sprünge auf den Glasplatten dann als imaginärer Kommentar deuten.
Da sieht man die Berliner „Phonographische Kommission“ bei der Arbeit. Auf 951 Edison-Walzen zeichnete sie die Lieder der Gefangenen auf, eine harmlose Spielart jenes peniblen wissenschaftlichen Eifers, der auch die Anthropologen erfaßte. In einer Vitrine liegt die Studie über „Rassenelemente der Sikhs“. Das benutzte „Menschenmaterial“ lagerte wenige Bahnstationen von den Universitäts-Rassenforschern entfernt. Dennoch, die Dokumentation einer Physiognomie des „fremdrassigen“ steht bei den mit Namen versehenen Porträts noch nicht im Vordergrund, ja es gelingen Stiehl sogar beeindruckende Darstellungen, so zum Beispiel mit dem Bild des majestätisch stolzen Sikhs aus Pandschab namens Digal Singh. Ein anderer Fotograf dagegen stellt einige Gefangene nebeneinander. Der Postkarte mit seinem Produkt gibt er den Titel „Typen aus dem Gefangenenlager Zossen“.
Namen der Gefangenen stehen auch in der Hauptgräberliste des benachbarten Friedhofs Zehrendorf. Dort soll es über 1.000 Grabstellen gegeben haben, eine Grabstätte der Araber über einem mächtigen Tatarengedenkstein mit steinernen Turbanen. Bilder vom Friedhof heute zeigen einen Trümmerhaufen. Auf einem Bruchstück, das die Zeit seit der Auflösung des Lagers im Jahr 1921 überdauert hat, ist noch die Inschrift zu erkennen „...auf daß ihre Überreste für immer in Ehren gehalten werden“. Die Gebeine der namenlosen vergessenen Muslime – bis vor kurzem lagen sie in der unheiligen Brandenburger Erde eines militärischen Sperrgebietes.
„Muslime in Brandenburg“, Museum für Völkerkunde, Lansstr. 8, 14195 Berlin, Di-Fr 9-17 Uhr, Sa/So 10-17 Uhr, bis Ende April.
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