Alles soll sich verändern und so bleiben, wie es war Von Nadja Klinger

„Ich spreche nicht als Staat, sondern als Gemeindemitglied, Herr Bischof.“ – „Und ich äußere mich zu einem staatlichen Vorhaben.“ Marianne Birthler, Leiterin des Berliner Büros der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, und Wolfgang Huber, Bischof von Berlin/Brandenburg, im Streit über das Unterrichtsfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religion“, Inforadio, 22. März 1996

Hilft die Schule einem nach der Schule weiter? Könnten Lehrer mit Schülern darüber reden, wie der Mensch sein Leben leben kann? Könnte man das Ethik nennen? Hilft dabei die Religion? Vom Standpunkt der Vernunft aus stehen wir vor einem wirklichen Problem. Marianne Birthler, von 1990 bis 1992 Bildungsministerin in Brandenburg, versuchte es zu lösen. Sie setzte 1992 in 44 Brandenburger Schulen „Lebenskunde- Ethik-Religion“ (LER) auf den Stundenplan. In diesem Unterricht sollte ohne Zensuren zwanglos geredet werden. Die Schüler sollten die Themen bestimmen, die Lehrer Angebote machen.

Es gibt aber andere Standpunkte als den der Vernunft. Jener zum Beispiel, von dem aus man meint, man könne die Kinder erziehen und dann ihr Leben regieren. „Ich spreche als Gemeindemitglied“, muß die Christin und ehemalige Katechetin Marianne Birthler gegenüber ihrem Bischof beteuern, nur weil Glaubenserziehung für sie in die Kirche gehört. Die evangelische Kirche soll in der Schule lediglich ein Angebot für eine mögliche Weltsicht machen, gleichberechtigt neben anderen Religionen und Anschauungen. Wolfgang Huber aber hält es weniger mit der Religion als mit der Macht. Nur 20 Prozent der Brandenburger haben eine Konfession. Und nun nehme ihm der Staat auch noch den Religionsunterricht weg, jammert der Bischof.

Das Streitgespräch zwischen Marianne Birthler und Wolfgang Huber im Radio verläuft so wie die meisten politischen Debatten. Eine Seite will etwas verändern, der anderen geht es ums Prinzip. Die Wirklichkeit ist irgendwo anders. Neu gewonnene Erfahrungen kommen vielleicht zur Sprache, spielen aber keine Rolle.

Irgendwann ist die Sendezeit um. Marianne Birthler ist aufgewühlt. Zwar liegt ihre Zeit als Bildungsministerin lange zurück. Die Ideen von LER aber hält sie nach wie vor für die größte Chance, daß Schule sich den aktuellen Lebensfragen öffnet. „Es geht nicht um LER, sondern darum, daß ein neues Bundesland keinen ordentlichen Religionsunterricht einführen will“, sagt Marianne Birthler und macht sich auf den Weg nach Hause. Nicht der sorgsame Umgang mit der besonderen Situation in Brandenburg, sondern der sorgsame Umgang mit den vor fast 50 Jahren in einem anderen Deutschland festgeschriebenen Grundrechten ist es denn auch, der Wolfgang Huber aufwühlt. Der Bischof macht sich bereit für den Weg nach Karlsruhe. So könnte die Geschichte ein Ende haben.

Um das Ende richtig zu verstehen, müssen wir zum Anfang zurück. Brandenburg ist weit weg. Es war einmal ein Teil der DDR. Seit 1989/90 hat sich das Leben hier gewaltig verändert. Nichts ist eingespielt, nichts erklärt sich von selbst. Fragen, die Kinder stellen, haben Eltern selbst. Was Eltern erklären können, wollen Kinder nicht wissen. In dieser Situation und nach den Erfahrungen in der DDR, wo die Ausgrenzung Andersdenkender ein Erziehungsprinzip war, kommt in Brandenburg zur Wendezeit niemand auf die Idee, die Kinder in einem weltanschaulichen Unterricht in verschiedene Gruppen zu trennen. Auch die evangelische Kirche der DDR erklärt Anfang 1990, daß es für die Einführung von Religionsunterricht keinen Handlungsbedarf gibt.

Am 3. Oktober 1990 kommen über Brandenburg die Gesetze eines anderen Landes. Über die evangelische Kirche von Berlin und Brandenburg kommt die Vereinigung mit der Kirche von Westberlin. Der Handlungsbedarf wird ein anderer. Als Bildungsministerin Marianne Birthler Religion in ihr neues Unterrichtsfach LER integrieren will, stößt sie bei den Kirchenleuten nicht auf Begeisterung. Plötzlich fühlen die sich aus der Schule verdrängt, mit der sie eben noch nichts zu tun haben wollten.

Die Potsdamer Ampelkoalition läßt sich nicht abhalten. Das Land sucht LehrerInnen, die fähig und bereit sind, auf eine völlig neue Art Unterricht zu machen. Sie müssen eine Prüfung bestehen und 900 Stunden Weiterbildung absolvieren. In 44 Schulen unterrichten nun staatliche Lehrkräfte zusammen mit Beauftragten der evangelischen Kirche LER.

Schon in den ersten begleitenden Studien des Pädagogischen Landesinstituts wird deutlich, daß das Fach nicht nur den Stundenplan, sondern die Lehrer, die Schule und dadurch die Schüler verändert. Obwohl es einmalig für Deutschland ist, interessiert sich außer in Brandenburg kaum jemand dafür. Man kann hier, im fernen Osten, gemütlich vor sich hin probieren. Als der Modellversuch abgeschlossen wird, stehen alle Zeichen auf Veränderung. Es ist 1995, die Regierenden von Berlin und Brandenburg schicken sich an, dem Volk die Vereinigung beider Länder schmackhaft zu machen. Kann das liebe Berlin zu den Brandenburgern kommen, während der liebe Gott gerade aus deren Schulen geht?

Womit bedroht Brandenburg das gute Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland?

„Ich weiß jetzt erst, was mein Beruf bedeutet“, hat ein LER- Lehrer einmal zu Marianne Birthler gesagt. Seine Kollegen beschreiben in der Studie des pädagogischen Landesinstituts, was er meint. „Es brauchte einige Zeit, bis ich mich an das intensive Einbringen des eigenen Ichs gewöhnt hatte“, heißt es dort. Oder: „So konnte ich mich mit Problemen beschäftigen, die mir bisher fremd waren.“ Die LehrerInnen erzählen, daß sie „aufmerksamer und gelassener mit Gefühlen umgehen“, daß sie sich „als Moderatoren und Berater“ verstehen, daß sie plötzlich fähig sind, Selbstkritik zu üben, daß sie neue Unterrichtsmethoden entdeckt haben. Sie sprechen von einer „gewachsenen Kompetenz, nicht nur was die Schule betrifft“.

So viel Veränderung ist nur entgegenzuhalten, daß alles so bleiben soll, wie es war. Dann hätte die Kirche in Brandenburg weiterhin kaum Mitglieder und würde die „Entchristianisierung, die die DDR betrieben hat“ (Rainer Eppelmann), fortsetzen. Die Schüler zeigten zuerst wenig Interesse an religiösen Themen. Jetzt berichtet ein Brandenburger Pfarrer, daß LER-Schüler ihm viel aufgeschlossener begegnen als andere.

Leider ist Brandenburg so weit weg auch nicht. Die regierende SPD ist Teil einer großen Partei. Der Ministerpräsident ist von Stasivorwürfen belastet. Die Kirche, die ihn stets rausgeboxt hat, hat noch etwas gut bei ihm. Morgen wird der Landtag über das Schulgesetz, über LER, abstimmen. Die Schüler dürften sich von LER abmelden, schlug die SPD-Fraktion der Kirche zuliebe nun vor. Ab wann ist ein Kompromiß feige? Das könnte Thema einer nächsten LER-Stunde sein. Wahrscheinlich werden nicht alle Schüler anwesend sein, wenn es um dieses Problem geht. Das ist ein Problem.