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Wahl im Land der Kompromisse

In Indien hat der Wahlkampf begonnen. Keine der Parteien hat gute Siegeschancen. Die meisten Politiker stehen unter Korruptionsverdacht  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Premierminister Rao war der erste, der Indiens restriktive Wahlkampfregeln zu spüren bekam: Er mußte auf die Grundsteinlegung einer Erdölraffinerie verzichten, weil ihm dies als Wahlwerbung ausgelegt worden wäre. Grundsteinlegungen sind ein beliebtes Mittel indischer Politiker, um zu demonstrieren, wie sehr ihnen ihre WählerInnen am Herzen liegen. Das Land ist deshalb übersät mit einsamen Steinen, über die Gras gewachsen ist.

Doch weil zwischen dem 27. April und dem 21. Mai in Indien Parlamentswahlen abgehalten werden, sind derzeit solch publikumswirksame Aktionen verboten. Mit dem Start des Wahlkampfes trat ein Verhaltenscode in Kraft, der genau vorschreibt, wie sich ein Kandidat zu verhalten hat. Das Regelwerk reicht von Vorschriften über den maßvollen Gebrauch von Lautsprechern und Plakaten bis zur täglichen Buchführung über Einnahmen und Ausgaben. Für die Einhaltung sorgen rund 1.500 mit Videokameras ausgerüstete Überwachungsteams.

Bereits zuvor war dem Premierminister ein anderes Lockmittel aus den Händen genommen worden, als Staatspräsident Sharma zwei Gesetzesverordnungen die Unterschrift verweigerte. Die eine betraf die Anerkennung der Christen als Kastenlose, was der regierenden Kongreßpartei die Dankbarkeit dieser Minderheit eingebracht hätte. Die zweite war ein neues Wahlgesetz, das die Zeit des Wahlkampfes verkürzt hätte; auch hier hätte die Kongreßpartei profitiert, da ihre Kontrolle über die elektronischen Medien sich in einem kurzen Wahlkampf positiv für sie ausgewirkt hätte.

Bei den Wahlen wird über 545 Parlamentssitze entschieden. Für die überwiegende Mehrheit der Wahlberechtigten stehen die Wahlkabinen am 27. April und am 2. oder 7. Mai offen. In jedem Teilstaat kann an zwei dieser Termine abgestimmt werden. Die BürgerInnen der drei Wahlbezirke im Kaschmirtal müssen sich dagegen bis zum 21. Mai gedulden. Die zeitliche Staffelung wird mit Sicherheitsargumenten begründet. Um Zwischenfälle an den über 1,1 Millionen Urnen zu begrenzen, werden mehrere hunderttausend Polizei- und paramilitärische Verbände verschoben.

Besonders die Bharatiya Janata Party (BJP) beklagt sich darüber, daß die indischen Medien dem Verhaltenscode entzogen bleiben. A. B. Vajpayee, der BJP-Kandidat für die Ministerpräsidentschaft, sieht auch in der Wahl des Hitze- Monats Mai einen Vorteil für die Kongreßpartei und vermutet gar, daß astrologische Konstellationen zu dem Termin geführt hätten. Ein Kongreßsprecher quittierte dies mit der Bemerkung, die BJP suche schon jetzt nach Ausreden für ihre Niederlage. Tatsächlich hätte Vajpayee noch vor vier Monaten solche Bemerkungen nicht nötig gehabt. Damals sah seine Partei noch wie der kommende Wahlsieger aus. Inzwischen sucht sie vergebens nach einer Gewinnformel. Zuerst hatte sie ihre religiöse Agenda begraben müssen, als die HinduwählerInnen in Provinzwahlen zeigten, wie schlecht sie das politische Spiel mit ihrer Religion goutierten. Dann zimmerte sie sich eine Plattform des wirtschaftlichen Nationalismus, welche in der Liberalisierung des indischen Marktes einen Ausverkauf der indischen Industrie sah. Diese Parole blieb ebenfalls schwach, weil die Reformen vor allem der Mittelklasse, dem traditionellen Wählerreservoir der BJP, Wohlstandsgewinne gebracht haben. Schließlich hatte sie geglaubt, mit dem Wahlkampfthema Korruption ein Mittel gefunden zu haben, um die in Geldsachen nicht zimperliche Regierungspartei zu schlagen. Doch dann kam die Partei selbst als angebliche Empfängerin illegaler Parteispenden in die Schlagzeilen.

Der Kurswert der Kongreßpartei hat sich so erhöht, was sich etwa darin zeigt, daß mehrere Regionalparteien mit ihr zusammengehen wollen. Dennoch ist die Lage für die Partei keineswegs gemütlich. Ein Ex-Minister wurde unter dem Anti-Terror-Gesetz verhaftet, ein weiterer ist als Verantwortlicher für die Sikh-Massaker von 1984 angeklagt. Narasimha Rao hat daher die Wirtschaftsreform zu seinem Wahlkampfthema gemacht und verspricht den WählerInnen: „Gebt mir Stabilität, und ich gebe Euch Prosperität.“ Aber er ist weder ein Volkstribun noch hat er den dynastischen Glanz des Nehru-Gandhi-Clans. Dies wirkt sich vor allem im archaischen und bevölkerungsreichen „Kuhgürtel“ der Ganges-Ebene aus, wo die Partei alle ihre traditionellen Wählergruppen verloren hat – die Brahmanen an die BJP, die Kastenlosen und die Muslime an zwei Regionalparteien.

Auch die Zusammenschlüsse von Linksparteien, Nationale Front (NF) und Linksfront (LF), haben keine guten Zukunftsaussichten. Die LF steht zwar als einzige Gruppierung nicht unter Korruptionsverdacht. Aber mit Kerala und Westbengalen als einzigen Wahlbastionen kann sie sich kaum Hoffnung auf mehr als sechzig Mandate machen. Sie ist daher auf die NF angewiesen, die inzwischen selbst äußerst geschwächt ist. Die assoziierten Regionalparteien sind gespalten oder im Abseits. In Nordindien haben sich neue Gruppierungen formiert, welche die traditionellen Linkswähler nicht mehr als ausgebeutete Klasse ansprechen, sondern als rückständige Kasten oder Kastenlose. Deren großes Stimmenpotential wird sich aber nur dann in Sitzgewinne umsetzen lassen, wenn sich die Vielzahl der Gruppen auf Sitzabsprachen und eine Führungsfigur einigen können.

Falls man die fünfzehn Provinzwahlen in den letzten vier Jahren als Vorgabe für das kommende Wählerverhalten interpretiert, wird die Kongreßpartei die große Verliererin der Wahlen sein. Aber selbst mit Sitzgewinnen für die NF/LF und die BJP wird keine von beiden allein die Mehrheit der Sitze erobern, und die Kongreßpartei könnte selbst bei Einbußen noch immer als stärkste Partei zurückkehren.

In den indischen Medien geistert angesichts dieser Perspektiven der Begriff eines „Qhung Parliaments“ umher – eines in der Luft hängenden, mehrheitsunfähigen Parlaments. Mit ihm verbindet sich die Angst, daß Indien eine Phase politischer Instabilität bevorsteht. Aber kaum hat der Wahlkampf begonnen, suchen alle großen Parteien geschäftig nach Partnern, unabhängig davon, ob sie in den ideologischen Maßanzug passen. Es ist ein Hinweis, daß ein Land von dieser Größe und Vielfältigkeit sein Überleben als Demokratie in erster Linie der Fähigkeit seiner Politiker verdankt, ständig Kompromisse einzugehen – im Guten wie im Schlechten.

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