Die Gesellschaft im Treibsand

■ Der in seiner Heimat zensierte Midnight Dancers zeigt den Alltag des Sextourismus in Manila

Überall auf der Welt sinken ganze Länder in die weiche Umarmung der freien Marktwirtschaft. Die Einzelnen macht das Hereinbrechen derselben meist zum Freiwild, ihr Überleben zum Drahtseilakt zwischen allen Möglichkeiten und Bedrohungen. Der in Paris lebende Exil-Vietnamese Tran Anh Hung hat vor kurzem in Cyclo die Entgleisung einer Kultur in die westliche Freizügigkeit in berauschende Bilder von größter Perfektion gepackt. Das leistet der philippinische Regisseur Mel Chionglo mit seinem Film Midnight Dancers nicht. Bei ganz ähnlicher Thematik geht er bescheidener, beschaulicher, fast altmodisch vor – bleibt dabei aber auch näher am Erzählten.

Sonny (Alex Del Rosario) kommt von der zurückgezogenen Unberührtheit einer Schule auf dem Land zu seiner Familie in die Hauptstadt zurück. Hier hat sich inzwischen einiges verändert. Längst sind es seine Brüder, die als Animierknaben in einer Schwulenbar das große Geld in Form stabiler Devisen nach Hause bringen. Joel, der ältere, lebt neben seiner Ehe auch eine Beziehung zu einem Mann; der jüngere Bruder zieht währenddessen nach dem Strippen im Club mit einer Straßengang durch die Stadt. Auch Sonny wird sein Studium bald sausen lassen und sich dem schnellen Geld widmen. Indem er in die Tiefen des nächtlichen Manila eintaucht, wird er zum Führer für die Kamera, die ihm folgt.

Chionglo, der für eine Dokumentation über eine Tankerkatastrophe vor der philippinischen Küste 1992 den Preis des besten Films beim London Environement Filmfestival einstrich, ist in seinem Impetus auch hier aufklärerisch – und hatte prompt Probleme mit der Zensur im eigenen Land. Kurz bevor sein Film 1992 bei den Feierlichkeiten zu „100 Jahre philippinischer Film“ laufen sollte, wurde er verboten. Dieser Film sei „amoralisch und unzüchtig“, hieß es. Doch auch wenn sich die Zensurbehörde darauf herausredete, waren es sicher nicht die durchaus vorhandenen Ingredienzen eines gutgemachten Softpornos, die schockierten, sondern eher die hoffnungslose Darstellung des Daseins in einer Gesellschaft im Treibsand. Chionglo zeigt eben nicht nur die Fassade körperlicher Freizügigkeit, die jeder Sextourist beschreiben könnte, wenn er hinsähe. Er beschreibt den Alltag der Menschen, für die das Tragen von Tangas nur das Tragen einer Arbeitsuniform ist. Hier hat die Armut es möglich gemacht, daß jeder sich selbst das einzige Kapital ist, und Nutznießer wie Drahtzieher scheinen die korrupten Behörden zu sein, deren Vertreter vor keiner Rechtsbeugung, keinem Verbrechen zurückschrecken.

Immer haarscharf balancierend zwischen Spielfilm, Doku-Drama und der eigenen Faszination an den Körpern, die er zeigt, schafft Chionglo ein spannendes Abbild einer Fremdheit, die trotz aller Verwestlichung noch weit von uns entfernt ist. Thomas Plaichinger Alabama