Fast eine Familie

■ In der Oldenburger Kinder-Wohngruppe lernen mißhandelte Kinder den Alltag

Von der Decke der hellen freundlichen Küche baumelt eine Osterhasenparade, und am Forsythienstrauch in der Zimmerecke hängen einige handbemalte Ostereier. „Meines war das Schönste! Ist aber schon kaputt...“, meint der zwölfjährige Rainer ein wenig traurig und setzt sich zu Oliver an den runden Küchentisch. Beide leben in der Kinderwohngruppe des Kinderschutzzentrums Oldenburg, der eine schon sechs Monate, der andere erst wenige Tage. Auf den ersten Blick unterscheiden sie sich nicht von anderen Kindern ihres Alters. Nur in stillen Momenten drücken sie ihre kuscheligen Kummerschafe an sich und erzählen ihnen, was sie anderen nur ungern erzählen.

Seit einem Jahr wohnen bis zu sechs mißbrauchte, mißhandelte oder vernachlässigte Mädchen und Jungen in dem Haus neben der Kaserne in Oldenburg. Hier können die Zwei- bis Zwölfjährigen für ein paar Wochen oder Monate Abstand gewinnen und ihre schrecklichen Erlebnisse verarbeiten. Sechs Betreuerinnen kümmern sich um sie, vermitteln ihnen, was sie zuhause nicht bekamen, und versuchen, wieder ein Bißchen von Normalität aufzubauen.

In Deutschland gibt es nur wenige Einrichtungen dieser Art. Wie in Bremen gibt es oft Krisenplätze in Heimen, in denen die Kinder im Bedarfsfall spontan aufgenommen werden. Aber gerade mißbrauchte Kinder können dort nicht adäquat aufgefangen werden. „Der Unterschied zum Heim liegt einmal in der Funktion der Wohngruppe als einer Kriseneinrichtung mit ausgebildeten Therapeuten in allen Gebieten. Die akute Situation muß sofort behandelt werden, ohne schon eine Lösung zu kennen“, erläutert Angela Kuhnhardt, die Leiterin der Wohngruppe und der Vertrauensstelle Benjamin, die gemeinsam zum Kinderschutzzentrum Oldenburg gehören. Der zweite große Unterscheid liegt darin, daß langfristig geeignete Heime oder Pflegefamilien für das Kind gesucht werden können, wenn es für das Kind nicht möglich erscheint, in die eigene Familie zurückzukehren. „Wir können ohne den Druck des Elternhauses nach Zukunftsperspektiven für alle Beteiligten suchen.“

Eine, der geholfen werden konnte, war Anna. Annas Mutter hatte die Zwölfjährige mehrfach zusammengeschlagen. Weniger aus Bösartigkeit denn aus Überforderung: Arbeitslos, ohne Partner, aber mit einem Kind „rutschte ihr öfter die Hand aus“. Der Vertrauenslehrerin fielen die vielen blauen Flecken und Blessuren an Annas Körper auf. Sie brachte sie zur Wohngruppe, wo sie vor ihrer Mutter sicher war. Aber auch die Mutter hat durch dieses Alarmsignal ihre eigenen Probleme erkannt. Nach anfänglichem Zögern erklärte sie sich zur Therapie in der Vertrauensstelle Benjamin bereit. Anna konnte auf ihren eigenen Wunsch hin wieder nach Hause. Die Chancen stehen gut für einen Neuanfang in der Familie.

Anna wohnt nicht mehr in der Wohngruppe. Dafür sitzten jetzt Patrizia und Melanie am Couchtisch neben der Küche und tauschen flüsternd Geheimnisse aus: „Die Jungs sind so blöd, die lachen uns nur aus!“ – ein bißchen Normalität.

Aber die Kinder in der Wohngruppe helfen sich auch gegensei- tig in ihrer Hilflosigkeit. Rainer erinnert sich: „Da war mal ein kleiner Junge hier, der ganz große Angst hatte. Der kam nachts immer in mein Bett gekrabbelt. Und morgens beim Aufwachen hab ich mich gewundert, was da so stinkt...“ Wie ein großer Bruder in einer großen Familie.

Der Wochenplan am Kühlschrank hält fest, wer an welchem Tag die Verantwortung für das Tischdecken trägt. Und nach dem gemeinsamen Mittagessen sollen die Kinder eine Stunde lang „Pause“ machen: Zeit für sich alleine in den postergeschmück-ten Kinderzimmern, Zeit zum Dösen, Hausaufgaben machen oder auch dem Hausmeister beim Fahrrad flicken helfen. „Pause ist soo langweilig!“, schimpfen Rainer und die drei anderen unisono. „Aber die Kinder brauchen Regeln und einen festen Tagesplan. Das hilft ihnen am besten, mit ihrer Situation fertig zu werden“, meint Beate Skribinski, eine der Betreuerinnen.

Die Kinder gehen nach Möglichkeit weiterhin in ihre alte Schule oder Kita. Nachmittags verabreden sie sich mit FreundInnen oder gehen zum Sport. Und am Wochenende unternehmen sie Ausflüge: zum Meer, in den Urwald, zum Schwimmen. „Alles wie in einer Familie, nur mit dem Riesenunterschied, daß sie hier immer einen Ansprechpartner haben“, meint Skribinski. Und das nehmen die Kinder ernst: Eine Junge bestand darauf, daß „seine“ Betreuerin beim Gespräch mit den Eltern und dem Jugendamt dabei sein sollte: „Du bist doch mein Anwalt!“

Manchmal kommt nachts die Polizei und bringt ein völlig verängstigtes Kind ins Haus. Die Mehrheit der 24 Mädchen und Jungen, die im Laufe des Jahres kamen, schickte allerdings das Jugendamt, dem am ehesten Fälle von Mißbrauch oder Vernachlässigung gemeldet werden. Wie der neunjährige Lars, den das Jugendamt von Zuhause wegnehmen mußte. Es wurde vermutet, daß der Junge sexuell mißbraucht worden war. Der vermeintliche Täter, ein Onkel, war zwar in der Zwischenzeit ausgezogen, aber er bewegte sich noch frei in der Familie. Das Kind war zuhause nicht sicher vor weiteren Verbrechen. Das Jugendamt suchte gemeinsam mit der Wohngruppe ein entsprechendes Kleinstheim für den verängstigten Jungen. Von einer Anzeige des Onkels wurde abgesehen, um Lars nicht noch mehr zu belasten.

Das Jugendamt Oldenburg übernimmt auch die Kosten für die Unterbringung der Kinder in der Wohngruppe. Es ist per Gesetz verpflichtet, mißhandelte, vernachläs- sigte und mißbrauchte Kinder in Obhut zu nehmen. Die Abrechnung erfolgt jedoch über die Pflegesätze. „Das sind 333,80 Mark pro Kind und Tag. Das klingt im ersten Moment viel, aber es beinhaltet tatsächlich alles zur Betreuung der Kinder“, betont Angela Kuhnhardt, „von den Personalkosten, der Miete und dem Essen bis hin zu Schulbüchern und Kleidung, wenn das Kind nicht mehr nach Hause kann oder will. Dann ist das plötzlich gar nicht mehr viel.“ Ohne festen Haushalt ist eine intensive Betreuung schwierig, denn im Endeffekt hängt das Bestehen der gesamten Einrichtung von der Zahl und Aufenthaltsdauer der mißhandelten Kinder ab. bik