Der Lange Marsch, im Sitzen zurückgelegt

■ Über den irischen Schriftsteller Sean („John“) McGuffin, seine verhängnisvolle Liebe zum Selbstgebrannten und seine inzwischen zahlreichen Persönlichkeiten

Das Zeug soll „Fleischwürmer töten, Melancholie vertreiben, den Darmwind pfeifen lassen und dem Altern Einhalt gebieten“. Die Rede ist von Poitin, jenem farblosen Schnaps, den die Iren seit Jahrhunderten brennen. Der Versuch der britischen Regierung, die private Schnapsherstellung 1760 per Gesetz zu verbieten, scheiterte kläglich: Die Brennerei ging weiter, und über Nacht war ein großer Teil der irischen Bevölkerung zu Kriminellen geworden. Der Belfaster Schriftsteller Sean (beziehungsweise John) McGuffin hat die Geschichte dieses hochprozentigen Getränks aufgeschrieben. Der Titel verrät, auf wessen Seite der Autor steht: „Zum Lobe des Poitin“.

Die Schwarzbrennerei blühte vor allem in den abgelegenen Landesteilen. Die Transportmethoden waren sehr einfallsreich. So benutzte man alle möglichen Behälter, angefangen bei kleinen Torfkarren bis hin zu Särgen bei falschen Beerdigungen. Es soll auf der Insel Achill einen Mönch gegeben haben, der seinen Lebensunterhalt dadurch bestritt, daß er Poitin segnete.

1892 erklärte die katholische Kirche die Schwarzbrennerei jedoch zur Kardinalssünde. Wer weiterhin Poitin herstellte, traf gründliche Vorsichtsmaßnahmen: Man benutzte getarnte Höhlen, einsame Inseln, hinter falschen Wänden versteckte Zimmer oder hohle Baumstämme. In den vierziger Jahren wurde selbst im Curragh- Gefangenenlager westlich von Dublin schwarz gebrannt, wie mein Schwiegervater John Lyons in einem Kapitel dieses Buchs beschreibt.

McGuffin ließ es auf dem Gebiet der Schwarzbrennerei nicht bei der Theorie bewenden. In den siebziger Jahren kam ich einmal in den zweifelhaften Genuß seines hausgemachten Brennesselweins. Er war ungenießbar. Um ihn nicht in den Ausguß kippen zu müssen, destillierte McGuffin die trübe Brühe und verwandelte sie in Brennesselschnaps. Das Ergebnis war verheerend: Der potente Tropfen verursachte bei den Versuchskaninchen umgehend und unwiderstehlich Magenkrämpfe und Durchfall.

McGuffin lagerte die Flaschen in einer Abstellkammer, wo sie blieben, bis die Drogenfahndung mal wieder im Cobweb Castle vorbeischaute, wie McGuffins Haus in Süd-Belfast hieß. Zwar fanden die sechs Beamten das Marihuana nicht, das unter dem Sattel des töchterlichen Schaukelpferds – genauer gesagt handelte es sich dabei um einen Esel – versteckt war, wohl aber stießen sie auf die Flaschen in der Abstellkammer. „Bedienen Sie sich, meine Herren“, ermunterte McGuffin die Drogenfahnder großzügig. Es war die mit Abstand kürzeste Hausdurchsuchung, die Cobweb Castle je erlebt hatte.

McGuffin trinkt aber lieber edlere Tropfen als den Schwarzgebrannten. Eine Flasche Whiskey pro Tag, dazu zwei Fläschchen Wein und diverse Biere waren früher sein Tagesquantum, heutzutage ist es etwas weniger. Bis auf eine bemerkenswerte Leibesfülle und eine entsprechend miserable Kondition hat McGuffin die Exzesse bisher jedoch unbeschadet überstanden.

Die nordirische Bürgerrechtlerin Bernadette Devlin-McAliskey berichtete in ihren Memoiren, wie McGuffin zum legendären Bürgerrechtsmarsch von Belfast nach Derry 1969 mit einer gigantischen Anarchisten-Fahne anrückte: „Die anarchistische Fahne war lustig – ein riesengroßes Banner in Rot und Schwarz. Allerdings war nur ein einziger Anarchist unter uns: der dicke, fette John McGuffin, der fast so breit war wie das Banner, das er unbedingt tragen wollte.“ Nach ein paar hundert Metern machte er jedoch schlapp, stieg in den Lautsprecherwagen und ging als vermutlich einziger Revolutionär in die Geschichte ein, der einen Langen Marsch nahezu komplett im Sitzen zurückgelegt hatte.

Später wurde McGuffin Vorsitzender der „Lumberjacks“, einer losen Vereinigung von Suffpatrioten, und arbeitete hauptberuflich als Dozent an einem Belfaster College. Nebenbei widmete er sich der Sachliteratur. Nachdem er 1971 von der britischen Armee für kurze Zeit interniert worden war, schrieb er ein Buch über die Internierungspolitik („Internment“, 1973) und eins über die Foltermethoden der britischen Armee („The Guineapigs“, 1974). Vier Jahre später erschien dann auch die englische Fassung des Poitin- Buchs.

Ob die Recherche für dieses Buch zu seiner mysteriösen Krankheit beigetragen hat, läßt sich nicht eindeutig feststellen. Tatsache ist, daß McGuffin kurz danach im Alter von 35 Jahren zum Frührentner erklärt wurde. Anfang der 80er Jahre wanderte er nach Amerika aus, wo er seitdem in einem Haus mit Blick auf „Frisco Bay“ lebt und eine Anwaltskanzlei betreibt. Das Schreiben hat er dabei keineswegs vernachlässigt: 1990 erschien „Der Hund“, ein turbulentes Werk, in dem es von Kamikaze-Aktionen, Meucheleien, perfiden britischen Agenten und aufrechten Revolutionären nur so wimmelt.

Im vergangenen Jahr traten bei McGuffin erste Hinweise auf eine Hirnkrankheit zutage: Er schickte zwar regelmäßig die angekündigten Kapitel für seinen neuen Roman an den Verlag, doch waren sie offenbar von vier verschiedenen „Personen“ verfaßt worden. Ein Anruf bei McGuffins Frau Georgia in Kalifornien bestätigte, daß McGuffin wegen mehrfach gespaltener Persönlichkeit in einer Privatklinik in San Diego liegt. Zur Frankfurter Buchmesse erscheint eine Dokumentation des Falls. Titel: „Der fette Bastard“. Ralf Sotscheck