Das Drehbuch der Wirklichkeit

Die keine Grabsteine haben, sollen wenigstens in einem Buch stehen. Hanna Krall schreibt Erzählungen aufgrund ihrer Recherchen über die polnischen Juden: „Existenzbeweise“  ■ Von Sabine Fröhlich

Eine Reporterin geht durch die leeren Straßen einer polnischen Kleinstadt. Sie betrachtet die einstöckigen, verwitterten Häuser, vergleicht sie mit einem Plan und macht sich Notizen. Der Ort wirkt ausgestorben und abweisend. Die wenigen Bewohner, die sich blicken lassen, sind mißtrauisch. Was will diese Frau? Will sie vielleicht eines der Häuser wiederhaben, das womöglich einmal ihrer Familie gehört hat?

Aber die Besucherin will kein Haus wiederhaben. Sie will nur wissen, wer vor dem Krieg in diesen Häusern gelebt hat. Sie sammelt die Namen der ehemaligen Bewohner, fragt nach ihren Geschichten und schreibt sie auf. Sie haben keine Grabsteine, erklärt sie den Einheimischen, so sollen sie wenigstens in einem Buch stehen. Die heutigen Bewohner der Straße scheinen diese Erklärung nur schwer zu verstehen. Und es fällt ihnen überhaupt auffallend wenig ein, was sie über diejenigen, die einmal hier zu Hause waren, sagen könnten.

In der kleinen Stadt Lezajsk lebten vor 1939 etwa 2.000 Juden. Von ihnen überlebten etwa zehn den deutschen Völkermord während des Zweiten Weltkriegs. Einer von ihnen heißt Szaja und ist heute Wächter einer Synagoge in Toronto. Von dort schickte er den aus dem Gedächtnis skizzierten Plan, mit den Häusern, den Namen und den Berufen der jüdischen Bewohner von Lezajsk, die auf dem Friedhof nicht zu finden sind, und die heute keiner mehr kennt – oder kennen will.

„Existenzbeweise“ heißen die zehn Erzählungen der polnischen Schriftstellerin Hanna Krall, die aus den Notizen von Lezajsk und vielen anderen Recherchen hervorgegangen sind. Ähnlich wie in ihren vorhergehenden Büchern rekonstruiert die Autorin aus biographischen Bruchstücken die Geschichten von polnischen Juden, deren gewaltsames Ende in Treblinka, Sobibor, Auschwitz oder an irgendeinem unbekannten Ort oft die einzige Gewißheit ist. Sie selbst bezeichnet sich als Reporterin, die sucht, fragt, entziffert und zusammensetzt, um den Opfern die entrissenen Namen und Lebensgeschichten zurückzugeben.

Sie recherchiert zufällig überlieferte Details aus dem Leben der Ermordeten, flüchtige Spuren und verwischte Umrisse der Gejagten und Verschollenen. Die daraus entstehenden Geschichten machen die einzelnen Menschen und ihr Schicksale wieder vorstellbar, die angesichts der Millionen von Toten zu einer abstrakten Größe geworden sind.

Die „Existenzbeweise“ dieses Bandes schildern die Suche von Überlebenden nach den Anfängen ihrer eigenen Geschichte, an die sie sich nicht erinnern können. Es sind die Kinder, die – versteckt oder als nichtjüdische Kinder polnischer Familien getarnt – dem Tod entgangen sind. Ihre Mütter hatten sie auf dem Weg zur Erschießung irgendwo abgelegt, auf der Schwelle eines Hauses, am Rand einer Straße, in der Hoffnung, sie durch die Trennung in letzter Minute doch noch vor dem sicheren Tod in den eigenen Armen bewahren zu können. Die neuen Eltern dieser Kinder hielten es oft auch nach dem Ende des Krieges nicht für ratsam, deren jüdische Herkunft offenzulegen. Und erst jetzt, Jahrzehnte später, beginnen sie selbst nach den eigenen Ursprüngen zu forschen, nachdem Ahnungen, Fundstücke oder späte Geständnisse der vermeintlichen Mütter oder Väter sie darüber aufklärten, daß ihre wahren Eltern irgendwo namenlos umgekommen sind.

Eines Tages erfährt Elzbieta P., daß sie eines dieser jüdischen Kinder ist. Dreißig Jahre lang behält sie dieses Wissen für sich, da sie fürchtet, als Jüdin von ihrem Mann und dessen Familie abgelehnt zu werden. Von nun an kennt ihre Geschichte verschiedene Fassungen: eine von den Eltern dargebotene und eine selbst entdeckte, aber vor der Außenwelt verborgene. In der Erzählung „Die Kiefer“ entsteht aus einer Montage von Gesprächen und recherchierten Indizien eine dritte Version, die sich in den äußeren Lebensdaten nicht dokumentiert. Sie enthüllt die einsamen und hilflosen Versuche einer Frau, der verlorenen eigenen Herkunft wenigstens selbst noch ein glückliches Ende anzudichten.

Die Geschichte der Elzbieta P. ist nur eine von vielen. Eine ganze Generation von geretteten Kindern ist gezwungen, mit einer ähnlichen Sehnsucht, mit einer früh erlebten und nicht zu bewältigenden Trauer zu leben. Aber auch mit einer vagen Hoffnung darauf, daß es vielleicht gerade die eigenen Eltern sein könnten, die überlebt haben... Was das im einzelnen bedeutet, skizzieren die Erzählungen Hanna Kralls oft nur in kargen Worten. Sie malen nichts aus, sondern beschränken sich auf nüchterne Feststellungen und benennbare Sachverhalte. Aber gerade der beherrschte und scheinbar emotionslose Stil der Reportage läßt die sprachlich nicht mehr zu fassende Verzweiflung zumindest erahnen. Zuweilen wird die Sachlichkeit auch provokativ gesteigert, bis hin zu einem kaum verhüllten Sarkasmus. Wie anders kann man sich sprachlich verhalten, wo die Erzählung an das Grauen stößt? Und mit welchen Worten ließen sich die Gefühle der Opfer wiedergeben, angesichts der jahrzehntelangen Stummheit der meisten Überlebenden selbst?

Ein Dokument, das Hanna Krall in der Erzählung „Hamlet“ aus dem Nachlaß des Musikers Andrzej Czajkowski veröffentlicht, läßt einen schmerzhaften Einblick zu. Dieser fiktive Brief des Sohns an seine in Treblinka umgekommene Mutter ist ein Ausbruch des verzweifelten Hasses und der verzweifelten Liebe eines jahrelang in Schränken versteckten Jungen, dessen Mutter ihn verlassen hatte, um ihn zu retten.

Die nüchtern notierende Schreibweise dieser Erzählungen gibt nicht vor, objektive, verläßliche Wahrheiten zu liefern. Sie behält stets auch die Brüchigkeit der aufgedeckten Wirklichkeitsfragmente im Auge. Die Elemente der Recherche, die offenen Fragen, die Zeitsprünge, die fehlenden Mosaiksteine stehen gleichberechtigt neben vermeintlich gesicherten Beweisstücken. Aber auch das scheinbar unverbrüchlich Dokumentarische, das ausgegrabene Papier, das alte Foto oder die Zeugenaussage, kann jederzeit kippen und sich als falsch oder gefälscht erweisen.

Erst die Handschrift einer mit kriminalistischer Präzision, aber auch Intuition arbeitenden Spurensucherin kann die zersplitterte Wirklichkeit wieder neu zusammensetzen. Dabei kommt es vor, daß sich neben den blinden Flecken, neben den Bruchstücken, die nicht zueinander passen, unvermutete Fügungen und Verknüpfungen ergeben, die wirken, als ob sie auch frei erfunden sein könnten.

„Meine Arbeit als Reporterin hat mich gelehrt“, schreibt Hanna Krall, „daß logische Geschichten, die keine Lücken und Ungereimtheiten haben, in denen alles verständlich ist, unecht sind. Dinge, die man sich nicht richtig erklären kann aber, die ereignen sich wirklich.“

Ihre Folgerung aus dieser verwunderlichen Tatsache klingt einfach: Die Wirklichkeit muß selbst schon ein Produkt sein, das „Drehbuch“ eines Verfassers, der die überraschende Pointe liebt. Allerdings kann auch diese Quelle keine zuverlässige Gewißheit bieten: Ist dieser Autor nun Gott oder der Teufel? Kann derselbe Verfasser für die vielen einzelnen Geschichten ebenso verantwortlich zeichnen wie für die eine große Geschichte?

Aber es ist nicht die Sache der Hanna Krall, auf große Fragen große Antworten zu geben. Sie schreibt, damit das Drehbuch der Wirklichkeit gelesen werden kann. Sie macht sich die Mühe, auch die Geschichten der Nebenfiguren zu recherchieren. Sie entdeckt die verborgenen Pointen in diesen Geschichten. Und sie hat den Blick für die Beobachtung, daß die schiefen, einstöckigen Häuser in den polnischen Kleinstädten aussehen wie die Steine auf vergessenen Gräbern.