Ich bin ein Einheitsgewinnler

■ F. C. Delius legt neue Bekenntnisse vor: „Die Verlockung der Wörter oder Warum ich immer noch kein Zyniker bin“

„Bescheidenheit bei mittelmäßigen Fähigkeiten ist bloße Ehrlichkeit, bei großen Talenten ist sie Heuchelei“, sagt Schopenhauer. Was soll man nun davon halten, wenn F. C. Delius in seinem jüngsten Buch der Literaturkritik (und einigen seiner Kollegen) den Mangel an ebendieser Tugend vorhält? Um nicht sofort in die gleiche Falle zu tappen, zitiert der Autor mit Blick auf seinen eigenen Text die Goethesche Variante eines salomonischen Spruches: „Alles Gescheite ist schon gedacht worden, man muß nur verstehen, es noch einmal zu denken.“ – „Alles Gescheite schon gedacht“ – der Denkfaule, der Zyniker, mag darin sein Alibi finden.

Nicht so Delius, der die vier Kapitel einer poetologischen und biographischen Selbstauskunft mit dem Titel überschreibt: „Warum ich immer noch kein Zyniker geworden bin“. Als Antwort auf die selbst gestellte Frage bekennt er in einem der Kapitel, die sämtlich auf Vorträge an der Paderborner Universität zurückgehen, sein „libidinöses Verhältnis zu den Wörtern“. Zum ersten Mal hat er dieses Verhältnis als 16jähriger gespürt. Damals mußte sich der Ausdruck keimender Liebe zu einem der begehrtesten Mädchen der Schule in die botanischen Metaphern eines Schulaufsatzes flüchten: „In dem Aufsatz pries ich alles, was ich verloren hatte, und am meisten die herrlichen Wälder ringsum, hessisches Mittelgebirge. Die Wälder deshalb, weil ich, schüchtern und hilflos, außer einem Freund nur den Bäumen von dieser Liebe erzählt hatte. Das konnte ich im Aufsatz nicht schreiben, aber für meine Gesprächspartner, die Bäume und Wälder, war mir keine Schwärmerei zu hoch und zu schade.“

Wird man so Dichter? „Sind es immer die, die bei den Mädchen oder bei den Jungen Pech haben, schlecht im Sport und unmusikalisch sind?“ Für Delius kommt, um es kurz und weniger schön als der Autor selbst zu sagen, die Ahnung von der antizipatorischen Kraft der Wörter hinzu, das Bewußtsein von ihrer Wirkung auf andere und von ihrem Potential, im „Widerspiel zwischen Ordnung und Zweifel, zwischen Chaos und Form“ die „Phantasie einer Alternative“ anzuregen. Das Vertrauen auf diese Eigenschaften der Sprache hindert ihn, dem Zynismus anheimzufallen.

Freilich ist jene Kritik am zynischen Zeitgeist, besonders am Feuilleton als dessen Medium, zu jeder Zeit auch ein wohlgelittener Bestandteil desselben. Delius' Kritik allerdings richtet sich gegen konkrete Auswüchse, gegen die Personalisierung in den Literaturdebatten, gegen den bisweilen rüden Ton im Feuilleton oder gegen das Diktat von „Kürze“ und „Lesbarkeit“. Mit dem Katastrophengerede vom Ende der Bücher, der Leser, der Literatur und so weiter kann er dagegen nicht viel anfangen: „Wenn wir heute ,Datenautobahn‘ hören, treten wir im Geiste schon ein paar Schritte zurück in den Straßengraben, weil wir natürlich nicht überrollt werden wollen. In der Buchbranche etwa genügten bis vor kurzem die drei Silben ,CD- ROM‘, um ehrfürchtiges oder angsterfülltes Staunen zu erzeugen. Kaum jemand reagierte darauf gelassen: ,Eine gute Erfindung, na und?‘“

In den vier Kapiteln des Bandes hangelt sich Delius an der Geschichte seiner Bücher entlang: der erste Gedichtband, das Siemens- Buch, die literarische Beschäftigung mit dem Terrorismus, die Erfolgsbücher der letzten Jahre. Bei der Beschäftigung mit zeitgeschichtlichen Stoffen sind ihm zumeist „passende Zufälle“ zu Hilfe gekommen, ein zufällig in die Hände geratener Unternehmensbericht oder eine Zeitungsnotiz: „Ich habe nichts dagegen, als ein bewußter Zeitgenosse bezeichnet zu werden, [...] der weiß, daß solche Fixierung auf die Gegenwart einen auch vergiften und zerstören kann, wenn man nicht subtile, flexible Verhaltensformen zwischen Neugier und Abschottung findet.“ Delius wehrt sich dennoch zu Recht dagegen, als „politischer Autor“ charakterisiert zu werden, da seine Bücher in erster Linie als literarische, nicht als politische Wortmeldungen zu verstehen seien. Doch was soll's: „Mißverstanden wird man sowieso, meistens sogar mit Absicht.“

Umstandslos bekennt sich Delius als „Einheitsgewinnler“. Die Aufhebung der deutsch-deutschen Grenze bedeutet für ihn die Überwindung einer psychischen Spaltung. Anders als viele seiner Kollegen, die die Entwicklung mit gemischten Gefühlen sehen, empfindet er angesichts des Mauerfalls schlichtweg Erleichterung. Delius ist ein heiterer Text gelungen, ein Plädoyer für mehr Gelassenheit, das er auf eine solch charmante und zurückhaltende Weise vorbringt, als wollte er mit Jean-Paul Sartre sagen: „In Bescheidenheit kann mich niemand übertreffen.“ Peter Walther