: Mittelmaß, Macht und Wahn
Auch die Mittelschichten haben ein Recht auf Tragödie. Martin Walsers Roman über das zerrissene kleinbürgerliche Bewußtsein und den Justizkrieg eines Beamten: „Finks Krieg“ ■ Von Jörg Lau
Daß die FAZ, die den neuen Roman von Martin Walser in diesen Wochen vorabdruckt, das Wort „Schlüsselroman“ ins Spiel brachte, ist verständlich. Orte des Geschehens sind schließlich vor allem Wiesbaden und Frankfurt, die Vorbilder der Personnage gehören entweder zur Leserschaft der Zeitung oder gar als Angestellte zu deren Medienimperium – wie Tronkenburg, der Widersacher des Protagonisten (alias Alexander Gauland, heute Herausgeber der Potsdamer FAZ-Tochter Märkische Allgemeine Zeitung). Man kommt zudem selber in dem Buch vor, wenn auch vor allem in den ausschweifenden Flüchen des Stefan Fink: als „Edelmistblatt“. Und wenn man schon Literaturgeschichte wird, dann will man sichergehen, daß die Leute es auch merken. Man flankiert daher den Vorabdruck mit begleitenden Artikeln, die das Publikum anhalten, das Verschlüsselte ordnungsgemäß zu entschlüsseln. Der wahre „Tronkenburg“ erhält Gelegenheit, seine Version der Geschichte darzulegen. Ein Fachmann erläutert die Geschichte des Genres „Schlüsselroman“. Neugier der Leser und Neid der Kollegen sind die Folge. Und wenn wir mal den Neid über diesen Coup für einen Moment unterdrücken, dann scheint wenig gegen solches Marketing zu sprechen: würde doch jeder so machen.
Ob Martin Walser aber über die publizistisch geschickte Kampagne der FAZ für seinen neuen Roman am Ende glücklich sein wird? Denn mit dem Wort „Schlüsselroman“ ist die Leserschaft auf eine falsche Fährte gesetzt worden. Was an diesem Buch groß und gelungen ist, und das ist nicht eben wenig, liegt abseits irgendwelcher Enthüllungen. Wer sich von der Aussicht auf die Entschlüsselung einer Affäre in dieses Buch locken läßt, wird sich bald wundern: Statt verklausulierter Aufklärung erwartet ihn offener Wahn. Das sollte doch wohl am Ende nicht gar eine Walsersche List sein, und deren williges Vehikel das Edelmistblatt, die Fassadenkosmetikgazette und Millionärsprawda, wie der Beamte Fink so treffend zu sagen pflegt?
Stefan Fink, dem Helden, untersteht als leitendem Ministerialrat in der Hessischen Staatskanzlei die „Verbindungsstelle Kirchen und Religionsgemeinschaften“. Nicht nur, daß Fink seit 18 Jahren hier arbeitet, das Referat ist seine Erfindung, er hat es aufgebaut. Als nun 1988 im traditionell roten Hessen ein Regierungswechsel zu Schwarz-Gelb ansteht, mitsamt den dabei üblichen Belohnungen für treue Kämpfer wie den gewesenen Fraktionsassistenten Moosbrugger (CDU), nimmt die Tragödie ihren Lauf: Das Referat soll zur Abteilung avancieren, der zum leitenden Ministerialdirigenten beförderte Moosbrugger soll sie leiten, Stefan Fink (SPD) hingegen soll in die Rechtsabteilung überwechseln.
Tragödienstoff? Seinesgleichen geschieht, möchte man da mit Robert Musil abwinken. Zumal Stefan Fink sich zunächst erfolgreich verteidigen kann, indem er, wie man gravitätisch zu sagen pflegt, „den Rechtsweg beschreitet“. Fink bewirbt sich um das neue Amt, das Verwaltungsgericht stellt fest, es müsse ein fairer Wettbewerb zwischen den Konkurrenten möglich sein. Der Staatssekretär muß sich also etwas anderes einfallen lassen. Nun wird keine neue Abteilung geschaffen, sondern der Referent per „Organisationsplanänderung“ ausgetauscht: Moosbrugger übernimmt einfach Finks Laden. Auch diesmal ist Fink nicht wehrlos: Mit Hilfe von Pflasterstrand und Spiegel werden Moosbruggers rechtsradikale Verwicklungen an die Öffentlichkeit und seine Karriere zum Halten gebracht. So einer kann jetzt nur noch in den Kolonien Karriere machen, man schickt ihn als Nachbarschaftshilfe nach Thüringen. Fink allerdings wird nun seines Amtes entbunden und mit minoren Tätigkeiten abgespeist, während Moosbruggers Mitarbeiter ihm vorgesetzt wird. Als er dagegen klagt, erhält er wiederum Recht, die Staatskanzlei jedoch geht in die Beschwerde. Es heißt nun, Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften hätten sich schon wiederholt über die Finksche Amtsführung beschwert, ja, das Verhältnis des Landes Hessen zu den Kirchen sei beschädigt. Der Staatssekretär versichert dies eidesstattlich – und siegt vor Gericht.
Ab jetzt befindet sich Stefan Fink im Krieg. Es geht um nichts weniger als seine Ehre, und er wird nicht eher ruhen, bis sie wiederhergestellt ist. Man weiß aus der großen Politik, daß Kriege mit solcher Motivation die unerbittlichsten und zerstörerischsten sind, weil sie dazu neigen, die moralischen Ressourcen aller Beteiligten aufzubrauchen.
Um es mit einem „Prunkzitat“ (Stephan Wackwitz) aus dem berühmtesten Monolog der Weltliteratur zu sagen: Es geht hier um den „Übermut der Ämter“, der unserem Helden Schmerzen von anthropologischer Wucht verursacht, nicht weniger schlimm als Liebeskummer – in Shakespeares Worten: „verschmähter Liebe Pein“. (Zum Thema sei Heft 68 [1995] der Zeitschrift Der Alltag, herausgegeben von Michael Rutschky, dringend empfohlen.) Martin Walser holt die Tragödie aus den Regionen der Haupt- und Staatsaktionen in die Welt einer Mittelschicht, die sich zwar geschmackvoll, aber eben doch preisgünstig, bei Karstadt, einkleidet. Das ist eigentlich noch nichts grundstürzend Neues. Aber Walser denunziert die Normalität nicht und motzt sie auch nicht medeamäßig mythologisch auf. Er begibt sich auf Augenhöhe mit dem Beamten Fink. Vielleicht erklären sich daher die mißlaunigen Verrisse, in denen die Kritiker vor allem auf Distanz zu der Durchschnittlichkeit des Helden bedacht waren. Dahinter stecken eigentlich vordemokratische ästhetische Konzepte wie „Fallhöhe“, von denen man sich langsam verabschieden sollte.
Enthüllung, Repräsentation, bestrafte Hybris – um all das geht es hier nicht: diese Tragödie ist die eines zerrissenen Bewußtseins. Walser erzählt sie konsequenterweise aus der Perspektive Finks, sozusagen mit subjektiver Kamera. Der Beamte Fink ist ein literarischer Nachkomme von Rameaus Neffen und dem Kellerlochmenschen Dostojewkis. Auch in seiner Revolte wird, je weiter man ihm in seinen Krieg folgt, mehr und mehr der Zusammenhang von moderner Subjektivität und Ressentiment deutlich. Stefan Fink kämpft um Anerkennung. Bei diesem Kampf aber entwickelt er Züge, auf die er am Ende nur mehr mit Selbsthaß reagieren kann. Diese Selbstentzweiung ist das eigentliche Drama dieses Buchs, sie ist der Prozeß, um den es geht und für den das endlose Prozessieren Finks nur den Nährboden bildet. Sie macht den Unterschied dieses Bewußtseinsdramas zum Drama des Michael Kohlhaas aus, in dessen Nachfolge sich unser Held gerne sehen möchte: Er nennt den Staatssekretär, seinen Widersacher, Tronkenburg, nach der Burg, auf der Kohlhaas' Gegner residierte.
Fink ist aber Jurist und weiß, daß sein Kampf ein anderer ist als der seines Vorgängers unter dem Feudalismus. Er erwähnt einmal „Niklas Luhmanns Ironiebegriff“. Ich stelle mir vor, daß der Jurist Fink auch mit dessen Rechtssoziologie „Legitimität durch Verfahren“ vertraut ist. Nach unserer Rechtsauffassung, schreibt Luhmann dort, begründet sich die Legitimität bestimmter Entscheidungen daher, daß sie durch ein allgemein akzeptiertes Verfahren gewonnen wurden. „Legitimität beruht somit gerade nicht auf ,frei- williger‘ Anerkennung, auf persönlich zu verantwortender Überzeugung, sondern im Gegenteil auf einem sozialen Klima, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen institutionalisiert.“
Walsers Roman zeigt, welche psychischen Kosten diese Form der Legitimität den Betroffenen zumutet, wenn sie Entscheidungen akzeptieren sollen, die sie zu Verlierern machen. „Funktion des Verfahrens ist mithin die Spezifizierung der Unzufriedenheit und die Zersplitterung und Absorption von Protesten [...]. Abweichungsstabilisierungen sind fast unvermeidlich mit Statusverlust verbunden. Der Verlierer wird zum Sonderling, zum Querulanten, zu einem, dessen Lieblingsthema man kennt und nach Möglichkeit vermeidet.“ Ebenso ergeht es dem Beamten Fink. Für den Soziologen mag der Fall mit solcher kühlen Feststellung erledigt sein, für den Schriftsteller wird es hier erst interessant.
Meisterhaft beschreibt Walser, wie der Beamte Fink, eingesperrt im Krieg um seine Ehre, in eine Selbstbeobachtungsschleife hineingerät. Er weiß, daß er mit seinem Eifer längst unleidlich geworden ist, für die Kollegen eine lächerliche Figur, für die Familie eine Nervensäge. Seit er begonnen hat, alles seinen Fall Betreffende zu kopieren, zu dokumentieren und abzuheften, verbringt er Stunden am Kopierer, mit hochrotem Kopf und schwitzend, sich selbst eine Plage. Einmal will er den Ministerpräsidenten schneidig zurückgrüßen: Es wird eine gräßlich komische Pantomime daraus, der dauerangestrengte Fink ist körperlich fragmentiert, bewegt sich „wie eine Marionette, die von einem Dilettanten gespielt wird.“ Er weiß auch, daß er dabei ist, die Welt „auf ein moralisches Kindergartenniveau“ zu reduzieren, und kann doch nicht aufhören. Er fängt an, vom „System“ zu sprechen, wenn er seine Gegner meint, obwohl ihm klar ist, daß die Nazis so die Demokratie beschimpft haben. Er muß immer häufiger fluchen, bei jeder neuen Niederlage: Scheißdrecksarschloch. Scheißrechtsstaat. Scheißscheißscheiß-Osterfest. Er findet das selbst widerlich und muß sich sehr wundern: Ein wahrer Schmutzausbruch nach dreißig braven Beamtenjahren. Er versteht jetzt manchmal, daß man Terrorist werden konnte.
Das Kunststück dieser Prosa besteht darin, das Selbstgespräch des wildgewordenen Kleinbürgers Fink bis in seine grotesken Spitzen auszuspielen, ohne ihn doch jemals ganz und gar der Groteske preiszugeben, wie es eine selbst schon wieder spießige Spießerkritik vorschreibt. Alexander Gauland („Tronkenburg“) hat in seiner Intervention (FAZ vom 2. März) versucht, Walser politisch für die Vergleiche haftbar zu machen, die seinem Helden einfallen. Man mag es ihm verzeihen, daß er sich beziehungsweise „Tronkenburg“ mit allen Mitteln zu verteidigen sucht, aber hier muß scharf widersprochen werden, denn es handelt sich um hoch komische Passagen: „Der Beamte Fink sah sich jetzt im Spätwinter und Frühjahr 1945. Sah sich in Berlin. Sah die Feinde stärker und sich schwächer werden. Aber wenn sich endlich die 9. mit der 12. Armee nördlich und nordöstlich von Berlin vereinigen und eine Front von Eberswalde bis Stettin bilden würde, dann war Berlin noch zu retten. Ich wies den Beamten Fink darauf hin, daß er sich so mit Hitler identifiziere. Kein bißchen, meinte er. Nur mit Berlin!“
Ich: das ist hier Stefan Fink, der versucht, den Beamten Fink wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es wird ihm am Ende gelingen, und man weiß nicht, ob man es komisch oder traurig finden soll, wenn der Beamte Fink dann seine Feinde lobt: „Lobe deine Feinde. Überlege doch: Wo wärst du ohne deine Feinde? Auf den Mäusepfaden aller Ministerialräte als eine weitere graue Maus. Freier als du jetzt bist, kann man nicht sein.“
Der Krieg ist zu Ende, der Beamte Fink gezähmt. Sogar das „Edelmistblatt“ nimmt er jetzt zurück. Seine Ehe ist kaputt, sein Beruf ist ihm fremd, seine Ehre gleichgültig – er ist ein überflüssiger Mensch geworden. Man kann ihn kaum mögen, aber wer dieses außergewöhnliche Buch über Mittelmaß und Wahn, über die Grausamkeit in den Zeiten der funktionalen Ausdifferenzierung liest, wird ihn nicht so schnell vergessen.
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