Die Mystik der Schablone

■ Die Germanistin Ruth Klüger liest im Literaturhaus

Jüdische Figuren in der deutschen Literatur nach 1945 lassen sich meist auf die Holocaust-Thematik reduzieren und sind dabei nicht selten stereotype Bilder jenseits gelebter Erfahrungswerte.

Insbesondere die Kinder von damals oder deren Nachkommen empfinden den Antisemitismus häufig als ein verlogenes Ritual auf „gutgemeinten“ Veranstaltungen, und stoßen – längst daran gewöhnt – auf deutsche Abwehrhaltung, sobald sie ihre jüdische Herkunft enttarnen. Viele Juden aus der sogenannten 2. Generation fühlen sich längst nicht mehr wie „Fremde in der Fremde“. Solche Formulierungen dienen eher der Mystifizierung als der Gegenwartsbeschreibung. Immerhin sprach die Jerusalem Post bereits 1985 anläßlich des Skandals um Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod von „German Jews“ und nicht mehr von „Jews in Germany“. War hier jüdische Assimilation oder deutsche Verdrängung am Werk?

Ruth Klüger stellt sich zwar nicht direkt diese Frage, aber sie weist dezidiert nach, daß Nichtjuden wie Andersch, Grass, Schlön-dorff, vor allem aber Fassbinder, kläglich scheitern, wenn es darum geht, spezifisch jüdisches Leben zu beschreiben. Was Klüger vorfindet, sind Abwehrreaktionen und die Wiederbelebung von Legenden. Sie liest Texte und Filme dieser Autoren „gegen den Strich“, indem sie innere Handlungsstränge mit der Befriedigung, die die darin verstrickte jüdische Gestalt dem Leser oder Autor verschaffen soll, konfrontiert.

Die Germanistin Ruth Klüger, die für ihre Autobiographie weiter leben, über ihre Jugend in Theresienstadt und Auschwitz, weltweit Anerkennung erhielt, zeichnet in ihrem Buch Katastrophen. Über deutsche Literatur nach, wie antisemitische Stereotypen, etwa der „verschlagene Blick“ oder der „Wucherer“, in Texten der Nachkriegszeit, die ein prosemitisches Leitmotiv verfolgen, weiterleben. Die Juden dienen vorwiegend der Rehabilitierung der „Mitläufer“. Und die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts – so ihre Diagnose im 4. Essay – sah in dem Nebeneinander von Antisemitismus und vorzüglicher Literatur noch kein Skandalon. Erst für die „Wissenden“ wird eine „untergeschobene Leiche“ in diesen Texten sichtbar, die ihren Schatten auf die spätere Katastrophe vorauswirft. Insbesondere in diesem Essay geht Klüger erstaunlich moderat mit antisemitischen Subtexten um, während sie Thomas Manns Herablassung, die er jüdischen Mitbürgern entgegenbrachte, unmißverständlich tadelt.

Die letzten vier Essays ihres Bandes betreffen das „Judenproblem“ nur am Rande und wenden sich anderen Themen deutscher Literaturgeschichte zu. In Kleists „aggressiver Rhetorik“ sieht Klüger beispielsweise eine verbale Angriffslust am Werk, die dem intertextuellen Gedankengut entsprang, das er vorfand. Nimmt Kleist damit die Katastrophen vorweg, die unser postmodernes Zeitalter kennzeichnen? fragt sich die konservative Professorin, die in den USA lehrt, und heute abend in Hamburg ihre Thesen vorstellt. Stefan Pröhl

Literaturhaus, 20 Uhr