Heilige in der Peep-Show

Hans Neuenfels inszeniert Verdis „Troubadour“ an der Deutschen Oper als wohlkalkulierten Schocker. Die Premierengäste toben  ■ Von Christine Hohmeyer

„Der ist doch krank.“ Der Herr im Smoking spricht abfällig und empört. „Der ist doch wirklich krank.“ Zornige, unmutige, aber auch belustigte Stimmen füllen das Foyer in der Pause von Verdis „Troubadour“ – der selbsternannte Bürgerschreck Hans Neuenfels hat zum wiederholten Male das Premierenpublikum der Deutschen Oper mit Blasphemie und Provokation aufgemischt.

Dabei war zunächst so viel Entsetzliches noch gar nicht geschehen. Während Ferrando zu Beginn des verwickelten spanischen Dramas die unwahrscheinliche Geschichte von der alten Zigeunerin erzählt, die des Grafen Sohn verhexte („Abbieta zingara, fosca vegliarda!“), trippeln in Latex- Leggins gewandete Soldaten mit fransigen Methusalem-Bärten albern bibbernd über die Bühne. Mitternächtliche Hexen werden nackt auf die Bühne gestoßen, ein Hochzeitsbett steht in Flammen. Erst als Christus samt Kreuz und blinkendem Dornenkranz auf die Bühne getragen wird, die im gläsernen Reliquienschrein aufgebahrte Heilige sich auf einmal wie in der Peep-Show gebärdet und Christus schließlich vom Kreuz steigt, entsteht ein Tumult im Parkett, der zeitweilig die Musik übertönt.

Etwas anderes war weder vom Regisseur noch vom Publikum zu erwarten. Seit seiner ersten Operninszenierung 1974 in Nürnberg (auch damals war's „Der Troubadour“) steht Neuenfels in der Tradition antitraditioneller Opernregie, die mit aufklärerischem Anspruch und Agitprop-Gebaren die Opernhäuser vom Muff der romantisierenden Schauergeschichten und des Belcanto-Kitschs zu säubern versucht.

An der Deutschen Oper waren es die vorangegangenen Verdi-Inszenierungen, die Neuenfels unter den Opernfreunden in Verruf brachte. „Können Sie nicht die Musik in Ruhe lassen?“ fragte ein älterer Herr in der Einführungsmatinee erbost, nachdem Neuenfels im Jargon des Berufsjugendlichen verkündet hatte, daß diesmal die Inszenierung „irre spanisch“, das heißt „voller Blut, Feuer, Opferung und absoluter Militärherrschaft“ sei. Nein, in Ruhe lassen will Neuenfels nicht, nicht die Musik und auch nicht sein Opernpublikum.

So sehr es einen mit Schadenfreude erfüllen mag, wenn die Erwartungen der Opernschickeria durchkreuzt werden – die Provokation allein macht die Faszination des Spektakels nicht aus. In den ersten beiden Teilen gibt es großartige Momente, magisch wirkende pantomimische Rückblenden, augenzwinkernde Absurditäten und eine kraftvoll visionäre Symbolik mit den stilisierten Masken der spanischen Inquisition. Das Bühnenbild (Reinhard von der Thannen) ist eine Wucht: ein dunkler, schiefer Rundhorizont, eine untergehende Arena, die in prachtvoller Lichtregie strahlend blau und rot oder dämmerig fahl ausgeleuchtet wird.

Später geht die politische Korrektheit mit Neuenfels allerdings durch und produziert allzu plakative Bilder. Asylanten hausen in Pappkartons, die Zigeunerin Azucena wird in eine Zwangsjacke gesteckt, und des Grafen Reich ist eine Metzgerkammer, in der die Kadaver verendeter Stiere („irre spanisch“) von der Decke hängen. Es ist nicht zu übersehen: Auch die Aufklärung kommt in die Jahre.

Doch die Verdi-Puristen, die angesichts dieser schönen, schauerlichen und manchmal auch zu grellen Bilder von einer Störung der Musik sprechen, haben es nicht kapiert: Von Verdi ist die Flut der Bilder und Ereignisse in zahllosen musikalischen Brüchen und Kontrasten ebenso angelegt wie die emanzipatorische Essenz der Oper, die Neuenfels so nachdrücklich unterstreicht. Dem wird auch die musikalische Realisation unter der Leitung Paolo Olmis frech und widerborstig gerecht. Die Veralberung des Militärs ist allein in der lautmalerisch schauernden Arie des Ferrando schon zu hören, und in den verzweifelten Partien der Azucena erklingt die Sehnsucht nach einer besseren Welt. Einzig der Troubadour (Kristjan Johannsson) singt sich mit seinem durchdringenden Tenor kraftmeierisch zu wiederholtem Szenenapplaus durch (was den Verdacht bekräftigt, daß Opernfreunde manchmal eher schwerhörig als feinfühlig sind).

„Ach, es ist immer das gleiche“, sagt die kleine Dame neben mir bekümmert, während der Regisseur von Buhrufen geschmäht wird. „Damals, bei seinem Rigoletto, haben sie sich auf dem ersten Rang richtig geprügelt.“ So haben zuletzt doch noch alle Beteiligten ihren Spaß: Die Deutsche Oper hat einen wohlkalkulierten Schocker, das auf Premieren abonnierte Publikum abendfüllenden Gesprächsstoff und alle anderen einen kurzweiligen Opernabend.

„Der Troubadour“ von Verdi. Regie: Hans Neuenfels, Bühne Reinhard von der Thannen, wieder am 31. 3., 3. und 7. 4., Deutsche Oper, Bismarckstraße 34–37