Surfende Bücherwürmer im Internet

Europäische Kommission plant Bibliothek der Zukunft. Doch von Gemeinschaft in den Netzen ist nicht viel zu sehen. Verkabelter Gesamtkatalog ist in Berlin zu teuer  ■ Von Elisabeth Leibold und Constanze v. Bullion

Wir schreiben das Jahr 2010. Die ganze Welt ist glasfaserverkabelt. Vor uns das gesamte Wissen der Welt, von Archäopteryx bis Zyankali, in jeder Sprache, immer verfügbar. Ein Stichwort genügt, und die Bibliotheken zwischen Irkutsk und Kapstadt öffnen ihre Magazine. Ob Aufsatz oder Doktorarbeit, was interessant erscheint, wird per Knopfdruck bestellt und sofort gelesen. Büchereien braucht keiner mehr, Lesesäle sind zu Parkhäusern umfunktioniert. BibliothekarInnen eine ausgestorbene Spezies. Wirre Visionen? Einen Blick in die Bibliothek der Zukunft warfen Neugierige in dieser Woche an der Freien Universität.

Wie können Büchereien oder wissenschaftliche Einrichtungen vernetzt werden? Wird es jemals möglich sein, europaweit nach Titeln und Texten zu fahnden? Kann uns eine Computerzentrale lästige Wege und teure Mahngebühren ersparen? Vorerst wohl nicht, meint Ariane Iljon, Netzwerkspezialistin der Europäischen Kommission.

Rund 57 Millionen Mark wurden von der EU dafür bereitgestellt, daß Bibliotheken sich auf multimediale Bedürfnisse ihrer Kunden einrichten. Bis 1998 sollen sie digital verbunden werden und Dokumente bis an die Haustür des Benutzers bringen. Doch um die Fördergelder sinnvoll zu verteilen, müssen griffige Konzepte her. Und bis die umgesetzt sind, weiß Marion Schmidt vom Deutschen Bibliotheksinstitut Berlin, „brauchen alle noch viel Geduld“.

Wer heute für die Uni-Hausarbeit auf Titelsuche geht, der muß sich noch immer durch Zettelkataloge, Dissertationsverzeichnisse und Stapel von CD-ROMs wühlen. Ist ein Buch in der eigenen Stadt nicht zu kriegen, dann geht ein Fernleihschein auf die umständliche Reise durch die gesamte Republik. „Bis zu einem Jahr“, sagt Johannes Zigler, Leiter der bibliographischen Auskunft der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz (Stabi), „kann eine Recherche dauern.“ Dann geht womöglich erst die Suche im Ausland los. Es geht aber auch schneller.

Längst haben bibliophile Digitalfreaks in den USA die virtuellen Welten für sich erobert. Auch in London und Amsterdam surfen Bücherwürmer zielsicher durch Ozeane von Bites und Bytes. Die Deutschen aber sitzen noch immer im Online-Paddelboot. Jedes Bundesland rudert im Alleingang. Viele Bibliotheken arbeiten noch mit billigen Mikrofiches, andere erfassen ihre Daten am PC, und jede Software arbeitet nach ihrem eigenen Prinzip. Nur zögernd kommt der Informationsfluß zwischen den Instituten in Gang, eine zentrale Datenbank für die ganze Bundesrepublik gibt es nicht. Auch in der Hauptstadt wird der Gesamtkatalog nicht verkabelt. Zu teuer, meint der Wissenschaftssenat. Den neuen Verbundkatalog Berlin-Brandenburg hat man nach alter Manier wieder auf Folie gebannt, in das Projekt hat sich die Gedenkbibliothek gar nicht erst eingeklinkt. Koordination der Bibliotheken, womöglich europaweit? Fehlanzeige.

Immerhin: Per World Wide Web kann auch die Berliner Studentin in den Beständen der Library of Congress in Washington stöbern. Internet. Zugang zu sämtlichen Nationalbibliotheken Europas kündigt „Gabriel“ für Ende März 1996 an. Und ab April bietet die Staatsbibliothek am Potsdamer Platz den Einstieg in WorldCat, einen elektronischen Benutzerkatalog mit über 30 Millionen Titeln. Die Datenbank verbindet Unis von Kalifornien bis Kanada und hat auch etliche Schriften unseres Kontinents aufgenommen. Blitzschnell spuckt sie zum jeweiligen Stichwort Buchtitel und Standorte rund um den Globus aus, französische und deutsche Werke inklusive. Natürlich nur für Eingeweihte.

Wer sich in die schallgedämpften Kabinen der Stabi hinunterwagt, der kauft bei der Auskunft zunächst einen neongelben Gutschein. Darauf steht das persönliche Paßwort und die Anzahl eingekaufter Abfragen. Jeder Anlauf kostet 1,20 Mark – pro Suchbegriff versteht sich. Wer fit ist, kommt für ein paar Mark ans Ziel, wer verträumt herumprobiert, für den wird's teuer. Denn eine Quelle allein zeigt nur die Spitze des Eisbergs. Was in anderen Netzen zu haben ist, wird nicht mitgeteilt. Ohne die Hilfe netzgeprüfter Bibliothekare führt also auch in Zukunft kein Weg durch den Datendschungel.

Aus der Frührente für Bibliothekare wird wohl auch im Jahr 2010 nichts werden. Per Knopfdruck zum Wissen? Nach Stunden in der Zelle werden manche vermutlich vergessen haben, daß die eigentliche Arbeit noch vor ihnen liegt – das Lesen der bestellten Bücher.