■ Die Tschernobyl-Gemeinde auf La Palma
: Ausgeträumt in Santa Cruz de La Palma

„Die Terrasse der La Placeta war jeden Abend gerammelt voll“, erinnert sich Wirtin Martina Quandt und zeigt dabei auf die Tische und Stühle vor ihrer Kneipe mitten in der Altstadt von Santa Cruz de La Palma. Im Spätsommer 1986 füllte sich schlagartig die Insel mit Eltern und Kindern vor allem aus Deutschland. Manche blieben nur kurz, manche wollten länger bleiben, und einige sind tatsächlich geblieben. „Von den 150 bis 170 Familien, die nach dem Tschernobyl auf La Palma kamen, um sich hier niederzulassen, haben es vielleicht 40 tatsächlich gepackt“, schätzt die 36jährige. Der Rest reiste bald enttäuscht wieder ab. Über 30 Prozent Arbeitslosigkeit und die damals selbst für EG- Ausländer stark eingeschränkte Arbeitsfreiheit ließen nur wenigen eine Chance.

„Die ersten zwei Jahre waren hart“, bestätigt auch die 10 Jahre ältere Inge Morauf, Mutter von drei Kindern und eine von Martinas Stammkundinnen. „Oft hatten wir, eine Nachbarin und ich und unsere fünf Gören, nur 10 Mark, um übers Wochenende zu kommen.“ Doch das sei Vergangenheit, heute lebe keiner von ihnen mehr auf den letzten Drücker. Morauf, früher Taxifahrerin in München, arbeitet heute im Astrophysikum, das Max-Planck- Institut und Universität Kiel auf der Insel betreiben. „Mädchen für alles, aber mit BAT-Vertrag“, grinst sie zufrieden.

Inge Morauf ist die Ausnahme. Die meisten der Tschernobyl- Emigranten auf der Insel verdienen ihren Lebensunterhalt im Tourismus. Im November 1987, kaum ein Jahr nach den ersten Tschernobyl-Flüchtlingen, begannen deutsche Fluggesellschaften die Insel im Direktflug anzusteuern. Mit den Urlaubern kamen auch neue Auswanderer, Rentner auf der Flucht vor der winterlichen Kälte. Zur kleinen Tschernobyl-Gemeinde gehören inzwischen nicht nur Reiseführer, sondern auch Schreiner, Fachleute für Altbausanierung, Immobilienmakler und Steuerberater – und ein niedergelassener Arzt.

Besonders schwer hatten es Margot und Huschang Peikairon. Sie organisiert heute Inselrundfahrten und ist damit das finanzielle Standbein der vierköpfigen Familie. Er aber, in den 60ern aus dem Iran nach Deutschland emigriert, mußte auf Palma zum drittenmal von vorn anfangen; das begann bei der Ausländerbehörde. Erst in allerletzter Minute gelang es ihm 1987, seine Abschiebung aus Spanien zu verhindern. Heute gibt der studierte Germanist Sprachunterricht bei den Belegschaften verschiedener Hotels.

Doch trotz aller Startschwierigkeiten denkt gerade Huschang heute wehmütig an die ersten Jahre auf La Palma zurück: „Wir kamen alle mit viel Elan hierher: ,Anders Leben, alternativ leben‘ hieß die Devise.“ Eine Kinderkrippe und eine Waldorfschule entstanden. Mindestens einmal im Monat traf sich ein größerer Kreis. Kindergeburtstage, Ostereiermalen, Nikolausfeiern, Anlässe fanden sich immer. Von den Ansprüchen sei heute nichts mehr übrig. „Wir gehen alle unseren ganz normalen Jobs nach. Der einzige Unterschied zu Deutschland: Wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir Palmen.“ Und wenn man sich überhaupt mal noch trifft, dann durch Zufall in der Kneipe La Placeta. Reiner Wandler